von Heribert Illig
Hier wird noch einmal, gewissermaßen im historischen Rückblick, der Umgang bei Wikipedia mit abweichenden Meinungen dokumentiert und kommentiert. Wenn man sich erinnert, wie die Wissenschaftler und die Wikipedia, in diesem Fall zum Teil in Personalunion, ihren Kontrahenten verleumdet haben, dann bestätigt sich: Wer keine guten Argumente hat, muss untergriffig werden!
Lange Zeit war die Wikipedia-Seite „Heribert Illig“ eine hart umkämpfte, für mich beleidigende Internet-Seite. Deshalb habe ich sie als direkt Betroffener viele Jahre lang nicht aufgerufen. Erst besondere Vorkommnisse und dann der „Spiegel“ [2010] hoben mir ins Bewusstsein, dass um diese Seite ein regelrechter Krieg getobt hat [vgl. Illig 2010a]. Dabei ging es um Administratoren, Hausordnung, Gruppenbildung, erhebliche persönliche Animositäten, nicht zuletzt auch um Sachfragen. Als markantes Beispiel wurde Henriette Fiebig vorgestellt, zugleich angestellte „community Assistant“ des spendensammelnden Vereins „Wikimedia Deutschland“ und ehrenamtliche Administratorin der Wikipedia. Ausgerechnet sie fühlte sich berufen, Professoren gegen meine These zu verteidigen. Und wie! Sie wollte nichts als die Wahrheit.
„»Irgendwann hast du geschnallt: Wir suchen da letztlich die Wahrheit. Die gibt’s aber nicht.« Eigentlich habe sie dieses Rechthabenwollen abgelegt, nachdem sie sich zweieinhalb Jahre mit den »Pappköppen im ‚erfundenen Mittelalter‘ herumgeschlagen« habe, den Anhängern einer Verschwörungstheorie, die besagt, dass die Jahre 614 bis 911 nie existiert hätten. Sie hat sich damals durchgesetzt [Rohr, 154].“
Wen wundert es, da die Dame am deutlich längeren Hebel saß. Sie hat offenbar lange nicht losgelassen, wie dieses Zitat von 2018 zeigt:
„Henriette Fiebig (*28. März 1967) ist eine Schreiberin und Administratorin in der deutschen Wikipedia. Außerdem war sie bis zum 30. Juni 2011 eine Angestellte des Vereins Wikimedia Deutschland. Hier übte sie die Tätigkeit einer Community-Assistentin aus, war also für »Anwerbung und Förderung von Freiwilligen für Vereinsprojekte und -initiativen, Begleitung und Hilfestellung für das Support-Team, Betreuung der Vereinsmitglieder« zuständig. Sie war auch Repräsentantin des Vereins auf Veranstaltungen. […] Henriette Fiebig versuchte Altgermanistik, Theater- und Bibliothekswissenschaften und Mediävistik zu studieren, was sie aber ohne Abschluss wieder sein ließ. Über sonstige akademische oder volkswirtschaftlich relevante Leistungen ist öffentlich nichts bekannt, wie das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« zu berichten weiß. Desweiteren heißt es dort: »Wenn es stimmt, dass Wikipedia wie eine Oligarchie funktioniert, (…), gehört Henriette Fiebig zur Führungsschicht. Sie sitzt in einem Café in Berlin, am Nollendorfplatz, eine mollige Frau, (…), sie spricht schnell und viel.« Fiebig beschäftigte sich intensiv mit der historischen Hexenforschung und dem Templerorden. Außerdem unternimmt sie private Studien zur Ethnologie und zur Alchemie und Kuriositätenkabinetten. Daneben hat sie eine Vorliebe für die Gärten der Barockzeit, die Geschichte der Automaten, Androiden und Homunculi. […] Henriette Fiebig ist Mitglied im Chaos-Computer-Club. Sie ist engagierte Donaldistin und Wikipedianerin; außerdem lehnt sie Pseudo-Wissenschaften, vor allem Prä-Astronautik und der These vom »Erfundenen Mittelalter« ab. Auch ihre sonstigen Interessen sind sozial auffälliger Natur. Am 16. Juni 2011 gab der damalige Wikimedia Deutschland Chef Pavel Richter in einem Blogbeitrag bekannt, dass Henriette Fiebig Wikimedia Deutschland zum ersten Juli auf eigenen Wunsch verlassen wird. Wie freiwillig der Abgang wirklich war, bleibt indes unklar“ [pluspedia: Henriette Fiebig].
Dazu muss man nur noch wissen, was eine Donaldistin ist: keine Anhängerin von Trump, sondern Mitglied bei „Donald“ = „Deutsche Organisation nichtkommerzieller Anhänger des lauteren Donaldismus“, also eine Vereinigung von Fans der Comic-Familie Duck und Entenhausen. Das also ist der Fiebig Kern. Und so jemand schützt die Professoren der Mediävistik davor, sich mit einer inzwischen gut belegten, abweichenden Meinung auseinandersetzen zu müssen. Es kann nicht verwundern, wenn sich hier zwangsläufig eine Frontstellung ergab. Damals habe ich vergeblich darauf hingewiesen, dass alle bei Wikipedia vorgebrachten Einwände von mir und weiteren Mitstreitern umgehend beantwortet worden sind, doch das interessierte bei Wikipedia niemanden. Es gab übrigens noch einen anderen engagierten Laien, den Hobby-Astronomen Franz Krojer, der ‚seine‘ Professoren vor mir schützen wollte. Er schrieb ein aufwändiges Buch über archäo-astronomische Probleme der Mittelaltertheorie und bekam von über 20 Spezialisten [vgl. Illig 2003, 502 f.] Argumente zugereicht, die sie nicht selbst vorbringen wollten. Da bin ich jenen Wissenschaftlern dankbar, die mir mit offenem Visier entgegengetreten sind.
Auf der fraglichen – und fragwürdigen – Seite „Heribert Illig“ wird zweispurig verfahren: Es genügte nicht, dass das erfundene Mittelalter von „Geschichtswissenschaftlern […] u. a. mit dem Verweis auf methodische Fehler als unwissenschaftlich abgelehnt und als wissenschaftlich widerlegt bezeichnet“ wurde, sondern es sollen auch meine vermeintlichen Fehler vorgeführt werden. Diese abschreckende Liste wird jetzt der Reihe nach abgearbeitet. Wir reden vom Stand Februar 2020, dürfen aber noch einmal feststellen, dass sämtlichen Einwänden zeitnah in der Zeitschrift Zeitensprünge entgegnet worden ist, dann im Nachwort zu „Das erfundene Mittelalter“ [1999] und in weiteren Zusammenfassungen. Doch Wikipedia hat nie ein Gegenargument unserer Gruppierung beachtet, so dass ich sie hier zusammenfasse. Unsere Gruppierung, das sind zahlreiche Autoren der Zeitensprünge und ich.
Die Rezeption gemäß Wikipedia
Bevor ich auf die Wikipedia-site in ihrer gegenwärtigen Fassung eingehe, lohnt sich ein weiterer Blick zurück: Die These ist 1991 in rudimentärer Form von mir erstmals vorgestellt worden. Mit meinen Büchern von 1994 und 1996 breitete sich die Idee aus und wurde lebhaft diskutiert. Bereits nach Erscheinen von „Hat Karl der Große je gelebt? Bauten, Funde und Schriften im Widerstreit“ [1994] „war dessen Inhalt Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses und fand Beachtung in mehreren Rezensionen“ [W]. Wer genauer als die Wikipedia-Autoren hinschaut, der sieht nicht mehrere Rezensionen, sondern bislang Stellungnahmen von deutlich über 150 Akademikern [vgl. Illig 2011b]. Denn mehr als eine Fakultät fühlte sich massiv angegriffen. Dazu gehören auch Radiokarbondatierer, Dendrochronologen, Archäo-Astronomen oder Archäologen. Wir folgen weiter dem Wikipedia-Artikel.
Prof. Johannes Fried (* 1942) hatte den Reigen ernstzunehmender Repliken 1995/96 eröffnet, indem er über die Phantasie als solche nachgrübelte. Er entdeckte eine positive, konstruktive Spielart, keineswegs zufällig bei sich, und eine negative, gefährliche Phantasie, „eine in die Irre führende, unzulässige Illusion“ [W] – vorsätzlich bei mir. Er beharrte auf dieser Trennung, obwohl er kein Kriterium nennen konnte, mit der sich die beiden unterscheiden ließen. Stattdessen prägte er den Begriff „Karlslüge“, sprach in der vorangegangenen Rede vor dem Historischen Kolleg vom „Karlsleugner“, womit meine These in die verbale Nachbarschaft von „Auschwitzlüge“ und „Auschwitzleugner“ rückte. Das war ein ziemlich bösartiger Auftakt der Rezeptionsgeschichte. Fried schloss konsequent mit einem Blick in den Abgrund:
„Phantasie bleibt ambivalent. Sie ist ein unabdingbares Erfordernis jeder Wissenschaft und unseres Daseins und, zur Illusion verkehrt, eine große Gefahr. Jede Epoche sei unmittelbar zu Gott. So etwa hat Ranke gelehrt. Es mag gelten. Aber die Geschichte ist nur unmittelbar zu dem, der sich ihr zuwendet, und damit zur Gegenwart. Hüten wir uns, beide Unmittelbarkeiten einander gleichzusetzen. Es führte, wie hier, in Deutschland, schon einmal geschehen, zur Katastrophe“ [Fried, 316].
Frieds „Hinweis auf gleichzeitige und unabhängig in vielen Quellen auftauchenden Berichte“ über Karl den Großen blieb dagegen substanzlos, denn die Mediävisten bemühen sich ja nach Kräften, die wenigen leidlich zeitgenössischen Quellen in irgendeinen Kontakt zu bringen. Beispiele dafür habe ich in meiner „Replik“ angeführt [Illig in EuS, 516 f.].
Fried hat noch im selben Jahr einen Blick ins nächste Jahrtausend gewagt, dabei seine Zunft als Insassen eines (Elfenbein-)Turms mit verschlossenem Portal und geöffneten Fenstern dargestellt. Die Fenster erlauben nur zusammen einen guten Überblick über die Vergangenheitslandschaft und sind über „methodologische Verbindungstreppen“ zu erreichen. Hier habe aber manch ein Kollege Frieds Schwierigkeiten, zumal ein schrecklicher Ausblick drohe:
„Zugegeben, nicht jeder Historiker bewegt sich mit gleichem Geschick über die Stiegen, der eine oder andere stolpert wohl auch, irritiert von der Fülle und Komplexität der Informationen, die er nun vor sich hat, gerät ob dem Hin und Her gar außer Atem und richtet sich erschöpft oder behaglich hinter einem einzigen Fensterchen ein, zufrieden mit der kleinen Welt, die er von dort erkennt. […] Mißverständnisse, aber auch Fehldeutungen sind unvermeidlich. […] Ist vielleicht, eine schreckliche Vision, die ganze und, gestehen wir es uns ruhig ein, seit den ‚Regesta Imperii‘ für abgeschlossen gehaltene Arbeit der Quellensichtung, weil nur aus einem Fenster gewonnen, von vorne zu beginnen, mit Konsequenzen für das Geschichtsbild, die noch kaum auszumalen sind?“ [Fried 1996a, 58 f.; Hvhg. HI].
Fried hatte wohl nach seiner Attacke gegen meinen Ansatz gespürt, dass hier etwas Umstürzendes im Gange ist. Das wollte er selbst vorantreiben, warb für Inter- oder Transdisziplinarität, vermied jedoch jedweden Gedanken über die Hilfestellung von architektonischer und archäologischer Seite. Und die historische Zunft im Ganzen hat dann lieber den bequemen Schluss fürs 21. Jahrhundert gezogen: Nicht wir müssen unsere Arbeit verbessern oder die Gültigkeit unserer Resultate relativieren, sondern es müssen nur Querdenker verspottet, verleumdet, mundtot gemacht werden. Denn wer setzt sich schlussendlich durch? Hirnforscher Wolf Singer (* 1943) schrieb den Mediävisten bald darauf ins Stammbuch:
„Und so wird jeweils in die Geschichte als Tatsache eingehen, was die Mehrheit deren, die sich gegenseitig Kompetenz zuschreiben, für das zutreffendste halten“ [Singer 2000].
Vor dieser Debatte ermahnte Prof. Christian Meier (* 1929) als scheidender Vorsitzender des Verbandes Deutscher Historiker seine Kollegen:
„Eine Disziplin soll nicht wie eine Herde Elefanten ihr jeweils Allerwertestes nach außen kehren, um die auszuschließen und zu bestrafen, die sich um ein allgemeineres Begreifen ihrer Gegenstände, ein Begreifen innerhalb eines allgemeineren wissenschaftlichen Diskurses kümmern. Sondern sie soll gefälligst ihr Gesicht zeigen und jene widerlegen – oder gar nach Möglichkeit über sie hinauszukommen suchen. Wir müssen insbesondere eine gewisse Toleranz entwickeln, wenn jemand anders sich von außen in unser Fachgebiet wagt. Nicht die Toleranz, Falsches für richtig zu halten, aber die, die ein Gespräch, ein gegenseitiges Lernen ermöglicht. Und dabei sollten wir sogar mehr als tolerant, nämlich zuvorkommend sein und nicht allzu pingelig“ [Meier 1989, 29 f].
Der Mediävist Matthias Grässlin, der sich mir am Telefon als solcher vorgestellt hatte, schrieb 1996 für die F.A.Z. eine überaus giftige Rezension ohne Argumente, die noch viel länger ausgefallen wäre, hätte nicht der Chefredakteur die schlimmsten Passagen durch ein großes, inhaltsarmes Karlsbild ersetzt. Zum Leipziger Mediävistentag (1999, über die Realität Karls d. Gr.; s.u.) fragte er – eingedenk meines Buches –, was sich eigentlich ändern würde, so Karl nicht existiert hätte, und ob das eine ferne Zukunft sei:
„Tatsächlich würde kein Mediävist brotlos, nur einige Sonderforschungsbereiche müßten wahrscheinlich als Institut für Rezeptionsgeschichte ihr Dasein fristen. Aber ist dieser Paradigmenwechsel nicht bereits vollzogen? […]
Wenig überraschend also, daß sich bereits die Hälfte der Leipziger Referenten – darunter auch Rudolf Schieffer (München) in seinem Eröffnungsvortrag ‚Karl der Große. Intentionen und Wirklichkeiten‘ – an das rettende Ufer der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, der ‚Histoire poétique de Charlemagne‘ begeben hatte. Rechnet man die Sektion II über ‚Karls Erbe und Erben‘ auch noch dazu, waren es sogar drei Viertel“ [Grässlin 1999].
Hier fühlte sich der aufrechte Karlsverteidiger Grässlin von seiner Zunft verraten und kritisierte seine Kollegen, in diesem Fall konsequent argumentativ.
Die schriftliche Debatte in der Zeitschrift „Ethik und Sozialwissenschaften“
Für Wikipedia diente eine schriftliche Debatte in der Zeitschrift „Ethik und Sozialwissenschaften“, redigiert an der Universität Paderborn, als wesentliche Argumentationsgrundlage – eine gute Wahl. Geschrieben wurden ihre Beiträge 1997, publiziert 1998. Dort konnte ich als „Anfrage“ sieben Fragen zum erfundenen Mittelalter stellen. Sie wurden über 100 Wissenschaftlern vorgelegt, von denen aber nur neun antworteten – immerhin neun Ausbrecher aus einer Phalanx der Widerwilligen. Das waren die „Stellungnahmen“, gefolgt von meiner „Replik“ auf diese Stellungnahmen. Bei der Übernahme durch die Wikipedia-Autoren ist bezeichnend: Sie ignorieren alle meine Erwiderungen und erwecken so den Eindruck, als hätte ich nichts antworten können. Ebenso ignorieren sie den Teil meiner Replik, der im Nachwort zu „Das erfundene Mittelalter“ steht [1999]. Mit diesem Verhalten beweisen sie, dass es ihnen allein um das Niederhalten meiner Thesen geht, nicht um eine objektive Wiedergabe des akademischen Streits. So braucht es auch nicht zu wundern, wenn es keine Querverweise zu anderen Wikipedia-Seiten gibt, etwa zu der von Karl dem Großen, Tassilo oder dem hl. Benedikt. Deshalb gebe ich hier noch einmal die kurzgefassten Antworten im Internet. Hier steht [W] für den Wikipedia-Artikel.
Prof. Gerd Althoff (* 1943) ließ sich auf keine Detailfragen ein, sondern hielt es für eine „abstruse Vorstellung“, dass „eine Hochkultur mit allen Facetten hätte erfunden werden müssen, wenn Illig recht hätte“ [W]. Dazu habe ich u.a. seitenlang byzantinische Geschichtsschreibung referiert, die im 10./11. Jh. rückwirkend geschrieben worden ist [EuS 515-517]. Die überbordende Fälscherarbeit des Mittelalters – vgl. die sechs Bände des Kongresses über mittelalterliche Fälschungen [Fuhrmann] – ist bis heute nur unzureichend motiviert und kann nicht nur aus Details des Wormser Konkordats resultieren [Faussner], sondern auch aus anders motivierten Entscheidungen.
Prof. Werner Bergmann (* 1946) bezieht sich „auf den zum Konzil von Nicaea festgelegten Ostertermin“ [W]. Doch zur Zeit von Nikäa gab es kein Wissen um einen Fehler im julianischen Kalender, folglich auch überhaupt keinen Bedarf für eine Kalenderreform. Außerdem wurde auf diesem Konzil der 21. März als Frühlingspunkt so wenig festgelegt wie in einem kaiserlichen Brief an die Brüder in Alexandria, ebenfalls 325. Das hat der Kongress im Vatikan, 1982 zum 400. Jahrestag der Gregorianischen Kalenderkorrektur, noch einmal bestätigt [Pedersen, 41 f.; nachzulesen Illig 2019, 19 f.]. Keiner meiner zahlreichen Gegner hat diese wichtigste Arbeit aus dem Zentrum der katholischen Kirche zitiert, wohlwissend, dass ihnen sonst das chronologische Gerüst zerbricht [vgl. Illig 2019 passim].
Prof. Michael Borgolte (* 1948) sieht bei mir das „positivistische Denken des 19. Jahrhunderts“.
„Daher kritisiert Borgolte auch Illigs Anstoß an allen frühmittelalterlichen Begebenheiten, die scheinbar ohne Analogien in ihrer Zeit blieben. Borgolte kommt zu dem Schluss, Illigs Ansätze seien ‚methodisch verfehlt und wissenschaftlich problematisch‘“ [W].
Schon die Veränderung von „wissenschaftsethisch problematisch“ [Borgolte in EuS 486] zu „wissenschaftlich problematisch“ [W] erscheint problematisch. Aber der Reihe nach. Borgolte fixierte sich auf meine wenigen Fragen, die ihm belanglos erschienen, aber dadurch gewichtig werden, „daß sie unsere Weltorientierung berühren“ [EuS 486].
„Illig will indessen diesen Sinnzusammenhang historischen Interesses suspendieren; er lädt ein, lediglich das Fundament seiner These zu diskutieren, ohne zu sagen, welcher Erkenntnis, welchem Beweisziel er zustrebt“ [EuS 486].
Borgoltes Urteil – „methodisch verfehlt und wissenschaftsethisch problematisch“, bezieht sich primär auf „Illigs Versuchsanordnung – die Trennung von Faktenkritik und Sinngebung“. Diese Trennung geht allein auf die Diskussionseinheit bei der EuS zurück; hätte ich Weiterungen meiner Thesen hier zur Diskussion gestellt, etwa die Frage, ob nun Otto III. oder Silvester II. mehr Anteil am Vordrehen der Uhr gehabt habe, hätte man mir zu Recht vorgehalten, dass denn doch erst die Fundamente meiner These geprüft werden müssen. Weil ich aber dort nur wenige Fakten vorbringen konnte, wirft er mir vor, ich wüsste nicht, dass
„niemals alle Fakten vollständig gesammelt werden können und dass diese Fakten Erkenntnis nicht aus sich selbst, sondern nur im Zusammenhang mit anderen Fakten ermöglichen“ [W].
Nichts anderes mache ich bei meinen Studien, darf aber für mich in Anspruch nehmen, auch die Fakten der Architekturgeschichte und der Archäologie weit mehr einzubeziehen, als dies die Mediävisten tun. Auch der anschließende Appell ans Portepee der Historiker verunglückt:
„Diesen Zusammenhang können aber nur Historiker(innen) stiften, die hierbei von unendlich variablen Wertstandpunkten geleitet werden. Verantwortliche Historie betreiben heißt deshalb heute stets, die eigenen Subjektivität möglichst selbstkritisch aufzuklären und die ‚objektive‘ Erkenntnis als relationale zu verstehen, die unauflöslich an die eigenen Denk- und Werthorizonte gebunden bleibt“ [EuS 486].
In der Praxis gilt das Gegenteil: Die Mediävisten verteidigen ihre Wagenburg, Andersdenkende gelten als unerwünschte Eindringlinge, die mit allen Mitteln abgewehrt werden müssen und dürfen. Mir hingegen ist bei jedem formulierten Satz bewusst, dass er gegen eine Lehrmeinung geschrieben wird, die von den Historikern gerne absolut gesetzt wird. Und noch ein Borgolte-Satz:
„Daher kritisiert Borgolte auch Illigs Anstoß an allen frühmittelalterlichen Begebenheiten, die scheinbar ohne Analogien in ihrer Zeit blieben“ [W].
Dies scheint mir ein wichtiger Punkt zu sein. Der Mediävist geht hier und bei vielen ‚antizipierenden Funden‘ stillschweigend davon aus, dass ja allemal ein noch älterer archäologischer Befund auftauchen könnte; dieser theoretisch mögliche neue Fund könnte ja dereinst die scheinbare Analogie-Lücke schließen.
Das lässt sich beispielgebend mit der Kuppel der Aachener Pfalzkirche demonstrieren. Sie wird von Eisenringankern zusammengehalten, die so groß dimensioniert und so qualitätsvoll sind, dass sie nicht von Hand, sondern nur mit wassergetriebenen Fallhämmern bearbeitet sein können. Für sie gibt es keinen archäologischen Fund vor dem 12. Jh., kein schriftliches Indiz vor 1080 [Illig 2014, 152 f.]. Darf der Mediävist gleichwohl davon ausgehen, dass bereits um 795 die Aachener Eisenringanker geschmiedet werden konnten? Korrekterweise nicht. Wenn er es trotzdem macht, müsste er eine Klarstellung formulieren, etwa so: Nach gegenwärtigem archäologischem Befund und Quellenverständnis kann Aachens Kuppel nicht um 800, sondern erst im 12. Jh. gebaut worden sein; wenn wir trotzdem bei 800 bleiben, geschieht das auf Basis der Hoffnung auf zukünftige Funde. Nur so bleibt erkennbar, dass das geglaubte Konstrukt auf einer fiktiven Basis ruht. Wer das nicht macht, dem darf ich mit Recht im Umkehrschluss vorwerfen: Dessen „Ansätze seien ‚methodisch verfehlt und wissenschaftsethisch problematisch‘.“ [EuS 486].
Der Mediävist PD Dr. Helmut Flachenecker (* 1958) geht das Problem von einer anderen Seite an.
„Laut Helmut Flachenecker gehe Illig von einer Verschwörungsthese aus, ohne jedoch Verschwörer und Zweck der Verschwörung anzugeben.“ [W]
Das wirkt wie das Beispiel vom Messer ohne Griff, dem die Klinge fehlt. Flachenecker schreibt in seiner zugrundeliegenden Stellungnahme:
„Illig geht von einer Verschwörerthese aus. Eine Gruppe – die in der ‚Anfrage‘ überhaupt nicht näher spezifiziert wird – habe alle Ereignisse zwischen September 614 und August 911 erfunden“ [EuS 487].
Doch „eine Gruppe“ wird in meiner Anfrage gar nicht genannt, weil es nicht um Täter und Motive gehen sollte. In ihr geht es um eine Pseudo-Zeit, der spätere oder erfundene Ereignisse und reale Artefakte zugeordnet worden sind. Deshalb habe ich geschrieben:
„Allen sich daran anschließenden Problemkreisen – etwa: wie kamen die Jahrhunderte in die Geschichtsbücher, wer war Urheber, wer waren die Ausführungen, was waren die Motive?“ – wird andernorts nachgegangen. Hier geht es ausschließlich um das Fundament dieser Theorie“ [EuS 481].
Zum gegenwärtigen Verständnis will ich hier ganz knapp auf Flachenecker antworten. Nach meiner Meinung haben die beiden mächtigsten Männer im Westen – Kaiser Otto III. und Papst Silvester II. – beschlossen, die Uhr von 702 auf 999 n. Chr. vorzustellen, um das aus der Bibel abgeleitete Jahrtausend des Friedens einzuläuten. Ab da musste ein Vakuum von 297 Jahren gefüllt werden, für das man nicht zuletzt eine Kaiserkrönung am ersten Tag des Jahres 801 imaginierte – laut Reichsannalen damals der erste Weihnachtsfeiertag des Jahres 800. Dafür gibt es sogar einen der von Flachenecker vermissten Quellenbelege: Eusebius von Cäsarea entschied sich anno 303, den sechsten Welttag nicht bis ins Jahr 500, sondern bis zum Jahr 800 reichen zu lassen. Er traf die Entscheidung 497 Jahre vor dem kritischen Tag. Der hl. Hieronymus sprach dann explizit vom ersten Tag des Jahres 801, war sich aber nicht schlüssig, ob an diesem Tag die Welt untergehen oder der siebte Welttag von eintausend Jahren beginnen würde. Eine taggenaue Vorhersage über 497 bzw. rund 400 Jahre ist in der Weltgeschichte einmalig [vgl. Illig 1999, 134 f.]; der ganz unwahrscheinliche ‚Zufall‘ lässt sich nur dann motivieren, wenn die Krönung taggenau in dem Zeitvakuum angesetzt werden konnte, ohne mit anderen realen Ereignissen zu kollidieren. Ab da wurde sukzessive die Karlsgestalt und die mit ihr verbundene Geschichte immer weiter ausgestaltet. Ein Höhepunkt war sicher die Zeit unter Friedrich I. Barbarossa im 12. Jh., der Karl von einem Gegenpapst heiligsprechen ließ. Noch 1481 verlegte der Humanist Ulrich Füetrer in seiner Bairischen Chronik für die Wittelsbacher Herzöge die Karlsgeburt in die Nähe von München.
Warum der Beschluss zweier Potentaten, der sich auch durch andere Indizien belegen lässt, eine Verschwörung sein soll, bleibt Flacheneckers Geheimnis. Aber genau der unscharf benutzte Begriff „Verschwörungsthese“ sollte die weitere Diskussion nachhaltiger beeinflussen, als der ‚rechtsextrem wirkende, jugendverderbende Sektengründer‘. Derzeit gibt es für Wissenschaftler kein stärkeres Schandurteil als den schwammigen Begriff „Verschwörungsthese“. Es gibt sogar ein jährliches Ranking für Verschwörungstheorien, das anzuführen ‚das erfundene Mittelalter‘ mindestens zwei Jahre lang die zweifelhafte Ehre hatte. Nachdem es die Gegenwart ungleich stärker bewegt, ob die erste Mondlandung oder ‚9/11‘ ein Fake war, als ein viele Jahrhunderte lang zurückliegender akademischer Streitpunkt, lässt sich mutmaßen, dass nicht allein Umfragen das erfundene Mittelalter so hoch gepuscht haben – diese Einschätzung wäre eine echte Verschwörungstheorie.
Und noch ein eher wirrer Wikipedia-Satz: „Illigs These bliebe daher nur die ‚wissenschaftliche Selbstaufgabe‘“ [W]. Das klingt bei Flachenecker selbst anders:
„so stellt sich für Illig das wissenschaftstheoretische Problem, wo er seine ‚anderen Quellen‘ finden kann, mit denen er die Ereignisse der vertuschten Zeit schließlich doch rekonstruieren will, denn die vorhandenen früheren bzw. vor allem die späteren Quellen sind ja reine Fälschungen, also in Illigs Augen Nichtquellen. So bleibt eigentlich nur die wissenschaftliche Selbstaufgabe“ [Eus 488].
Daraus ergibt sich, dass Flachenecker die von ihm kreierte Verschwörungsthese nicht einmal selbst verstanden hat. Denn er geht wie der von ihm herangezogene Wilhelm Kammeier davon aus, es hätte Zeit gegeben, deren geschichtlicher Inhalt vertuscht worden sei. Ich gehe dagegen von künstlich eingefügter, künstlich geschaffener Zeit aus, die zunächst leer war und dann sukzessive mit Geschichte gefüllt worden ist. Gemäß dieser These sind Artefakte, die dieser Pseudo-Zeit zugeordnet werden, falsch datiert, sind schriftliche Quellen später geschrieben worden, um diese Zeit zu füllen. Doch sie lassen sich sehr wohl von den Inhalten späterer, realer Jahrhunderte separieren. Meine Ausführungen führen die Historiker deshalb nicht zur „wissenschaftlichen Selbstaufgabe“; dass meiner These „nur die ‚wissenschaftliche Selbstaufgabe‘“ bliebe, ist das doppelte Missverstehen der Wikipedia-Autoren.
Flachenecker greift dann Borgoltes Gedanken von Begebenheiten auf, die „scheinbar ohne Analogien in ihrer Zeit“ stattfinden. Er formuliert das so: „Flachenecker kritisiert Illigs Fortschrittsgläubigkeit und Hybris, die sich in Illigs fehlerhafter Prämisse einer geradlinigen Geschichte zeige“ [W]. Doch ein geradliniger Geschichtsverlauf wird von mir keineswegs angestrebt, wenn ich feststelle, dass ein Bauwerk zum überlieferten Zeitpunkt noch gar nicht gebaut werden konnte. Ich bereinige den Geschichtsverlauf nur um unzulässige Konstrukte.
Prof. Dr. Gunnar Heinsohn (* 1943) war damals mein Parteigänger, so dass hier keine Verständigungs- oder Verständnisprobleme vorliegen.
Prof. Dr. Theo Kölzer (* 1949) sah sogar die Gefahr, dass eine Zeitschrift bereits ihren wissenschaftlichen Anspruch riskiert, wenn sie meine sieben Fragen als Anfrage abdrucke. Er riet mir ironisch, über die merowingischen Königsurkunden, deren Edition er gerade vorbereitete, zu einem eigenen Werk: „Über diese vermeintlichen Phantome mag Herr Dr. Illig ein weiteres Buch schreiben“ [EuS 491]. Noch im selben Jahr erschreckte er die Öffentlichkeit mit seinem für ihn ‚vernichtenden‘ Befund: Zwei Drittel aller merowingischen Königsurkunden sind gefälscht. Er präsentierte ihn in einem Spiegel-Interview [Schulz 1998], flankiert von zwei Mediävisten-Meinungen: „Die Skriptorien hätten Fakten umgebogen ‚wie das Wahrheitsministerium bei George Orwell‘“ [Prof. Horst Fuhrmann laut Schulz] und „Unsere Zunft steht vor einem Abgrund an Falsifikaten und es werden immer mehr“ [Prof. Max Kerner ebd.]. Kölzers Urkunden-Edition erschien erst drei Jahre später, 2001. Seitdem wäre Zeit genug gewesen, sich bei mir zu entschuldigen. Dies geschah nicht und beweist so, wo die eigentliche Hybris angesiedelt ist.
Da zu Prof. Dr. Dietrich Lohrmanns (* 1937) Forschungsschwerpunkten Papstgeschichte und Papsturkunden gehören, glaubt er der päpstlichen Bulle von 1582 ihren Bezug auf das Konzil von Nikäa rückhaltlos. Trotzdem ließ sich im Detail nachweisen, dass es sich hier um eine päpstliche Notlüge handelt [Illig EuS 513; 1999, 59; 2019 passim]. „Er widerlegt Illigs Behauptung, der Bau der Aachener Pfalzkapelle sei voraussetzungslos“ [W]. Natürlich ist dieser meisterliche Bau nicht voraussetzungslos, sondern braucht Vorläufer, also Voraussetzungen. Lohrmann bringt irgendwelche den Karolingern zugeschriebenen, aber kuppellosen Bauten, nicht zuletzt Centula, dessen beide – viel späteren – Kuppeln des 16. Jh. wir nur von einer Zeichnung von 1672 zu kennen glauben. Ravenna und Konstantinopel besitzen tatsächlich Kuppelkirchen, aber wie von mir ausführlich gezeigt, nicht in Stein gebaut, sondern aus Ziegeln, die Wölbungen aus leichten Tonhohlkörpern. Lohrmann vermisst bei mir die Felsendomkuppel als Vorläufer [EuS 492]. In Wahrheit überwölbt ihn kein massives Steingewölbe wie das von Aachen, sondern lediglich ein Holzgerüst als Halterung für die metallischen Verkleidungsplatten. Das Holzgerüst hätte bestenfalls als Stütze für die Gewölbeschalung in Aachen dienen können [EuS 508]. Insofern kenne ich Aachens Voraussetzungen besser.
‚Steinkuppelkenner‘ Lohrmann war pikiert, weil ich es gewagt hatte, über die Null zu schreiben. Um mich verhöhnen zu können, wählte er trotz meiner präzisen Quellenangabe eine andere Textstelle, bei der „nulla“ tatsächlich für „ohne“ steht. So schuf er sich Freiraum für seine Beleidigung: „Sollte man wirklich über die Null in karolingischer Zeit etwas schreibe, wenn die eigenen Lateinkenntnisse gegen Null tendieren?“ [EuS 492]. Derartige Gehässigkeiten, wie sie insbesondere die beiden Aachener Professoren Max Kerner (* 1940) und Lohrmann gerne verlauten ließen, mögen dem Umstand geschuldet sein, dass sie Aachens Karl um jeden Preis verteidigen mussten. In meiner Replik habe ich auf die ausgewiesene Stelle bei Beda Venerabilis und Robert R. Newton verwiesen. Dieser schrieb in Kenntnis aller lateinischen Chroniken und mit großem mathematischem Wissen:
„Bedas Gebrauch weist meines Erachtens darauf hin, daß er ein Konzept von ‚nulla‘ als einer Zahl hatte, und daß er den Begriff nicht nur in seiner üblichen Bedeutung von ‚Nichts‘ gebrauchte“ [EuS 511; Newton, 121 f.].
Ich könnte wegen des Felsendoms Lohrmann ebenso lächerlich machen wie er mich wegen der Null, doch habe ich bislang vermieden, mit gleich schäbiger Münze zurückzuzahlen. Weiter: Wenn Lohrmann kritisiert, dass ich mich „nicht mit den Hinterlassenschaften der von Illig in Frage gestellten Zeit, sondern hauptsächlich mit Sekundärliteratur beschäftigt habe“ [W], so beweist er noch einmal, dass er primär an Urkunden denkt, nicht an Architektur und archäologische Funde. Diese habe ich nach Augenschein oder nach ihren Beschreibungen geprüft. Diese Prüfung ergab in zu vielen Fällen, dass „Bauten, Funde und Schriften im Widerstreit“ stehen, so einer meiner Buchtitel [Illig 1994]. Dass eine Widerlegung von Urkunden durch Artefakte möglich sein könnte, gehört leider nicht zum Standardrepertoire der Mediävisten.
Prof. Dr. Jan van der Meulen (1929–2011) „setzt sich eingehend mit Illigs architekturhistorischen Einlassungen auseinander und weist diese zurück“ [W]. Hier übersieht Wikipedia, dass mir van der Meulen insoweit zustimmt, dass in Aachen keine karolingische Kuppel entstanden ist:
„Ob das Mauerwerk und die Kuppel von Gallo-Römern, oder das Mauerwerk von Karolingern und die Kuppel von Ottonen sind, bleibt offen bis archäologische Kriterien gebracht werden“ [EuS 495].
Für ihn stammt also gerade die Kuppel nicht von den Karolingern, was sich mit meinen Ausführungen deckt, die er gleichwohl mit einem überdimensionierten Artikel [EuS 493-506] ad absurdum führen wollte, ohne dies zu bewältigen [vgl. Illig EuS. 512]. Die archäologischen Kriterien hat mittlerweile Aachens Dombaumeister Helmut Maintz (* 1959) beigesteuert, was aber Wikipedia-Autoren nicht beachten wollen:
„Im Rahmen aller Untersuchungsöffnungen können wir übrigens festhalten, dass die Eisenringanker oder Eisenklammerringanker alle satt im karolingischen Mörtel lagen, also im Zusammenhang mit dem Aufmauern eingebaut worden sind. In einigen Publikationen wurde dies bezweifelt und der Umkehrschluss ausgeführt, dass die Eisenanker erst später eingebaut worden sind, auch weil man gar nicht in der Lage war, die Eisenstangen in dieser Länge zur karolingischen Zeit herzustellen. Das ist hiermit widerlegt“ [Maintz 2005, 31; vgl. Illig 2014, 134, 136].
Um den Karolingerbau zu retten, muss Maintz die Eisenanker als karolingisch einstufen, obwohl er weiß, dass sie erst mit Hilfe von wasserbetriebenen Fallhämmern, also erst nach 1100 geschmiedet worden sein können. Auch die weiteren, auf Saint-Denis bezogenen, sehr speziellen Kritikpunkte van der Meulens sind bereits von mir behandelt worden [vgl. Illig in EuS 512].
Prof. Wolfhard Schlosser (* 1940)
„überprüft anhand historisch bekannter astronomischer Ereignisse die Stimmigkeit der Illigschen Thesen und kommt zu dem Schluss, dass Illigs These aus astronomischer Sicht nicht haltbar sei“ [W].
Auf dem Weg zu seiner Schlussfolgerung greift Schlosser auf drei Mondfinsternisse zurück, die Claudius Ptolemäus in den Jahren 133, 134 und 136 beobachtet haben will. Doch der Astronom Robert Russell Newton, Mitarbeiter des Applied Physics Laboratory der John Hopkins University in Baltimore hat in einem aufsehenerregenden Buch (The crime of Claudius Ptolemy) gezeigt, dass der spätantike Astronom Stern-, Mond- und Planetenpositionen vielfach nicht beobachtet, sondern errechnet hat. Dazu gehört laut Newton auch das von Schlosser herangezogene Finsternis-Tripel und die Planetenbeobachtungen [vgl. EuS 513-515]. Diesen Streit müssen die Astronomen unter sich austragen.
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Damit ist die größte schriftliche Auseinandersetzung für Wikipedia erledigt. Es folgt noch ein Abgesang. Prof. Rudolf Schieffer (1947–2018) war der erste Mediävist, der mir (zusammen mit Prof. Friedrich Prinz, 1928–2003) persönlich entgegentrat; die einstündige Rundfunkdiskussion wurde am 12. 01. 1996 gesendet. Er attackierte mich mit zwei Statements, die ich kontern konnte, worauf in der Patt-Situation Moderator Burkhard Müller-Ullrich (* 1956) auf Fälschungen überleitete. Hier brachten beide Mediävisten so viele mögliche und auch scheinbar unmögliche Beispiele für Fälschungen, dass ich nach langen Minuten sagen konnte, dass in einem solchen Umfeld auch eine Zeiterfindung sehr gut möglich erscheint [auszugsweise nachlesbar bei Illig 1996b].
Schieffer [1997] begnügte sich nicht mit dieser Diskussionsrunde, sondern schrieb auch eine Kritik meines ersten Buchs. Als damaliger Präsident der Monumenta Germaniae Historica und damit wohl oberster Urkundenverweser Deutschlands kämpft er auch diesmal um seine Urkunden, vorab jedoch gegen den zu geringen Umfang meines Buches. Das Schicksal z.B. der Langobarden, die Ausbreitung der Slawen, das Überdauern von Byzanz und das Entstehen des Islam werde nicht behandelt (Schieffer sah immerhin die Unhistorizität der Tang-Dynastie, doch die hatte er aus anderer Quelle). Ihm wäre lieber gewesen, wenn ich bis zur Beantwortung auch der letzten Frage geschwiegen hätte. Doch ich wollte nicht 30 Jahre lang still vor mich arbeiten, sondern die Antworten sukzessive geben. So fand ein Gutteil von Schieffers Fragen bereits in meinem nächsten Buch „Wer hat an der Uhr gedreht?“ ihre Antworten. Doch das hat kaum ein Mediävist mehr in die Hand genommen.
Dann versuchte Schieffer seinem Kollegen Horst Fuhrmann und dessen peinlicher Einschätzung von Urkunden „mit antizipatorischem Charakter“ beizustehen. Das ist nicht geglückt, konnte er doch nicht motivieren, warum z. B. eine Fälschung so gewaltigen Umfangs wie die Pseudisidorien aus unbekanntem Grund geschrieben, dann vergessen und
„einmal in der Welt, mit der Zeit Verwendungen finden konnten, die ihren einstigen Urhebern kaum bewußt oder vordringlich gewesen waren (also etwa im 11. Jahrhundert zur argumentativen Waffe des Reformpapsttums wurden)“ [Schieffer, 612].
Demnach hätte ein Fälscher ein riesiges Konvolut zusammengestellt und -gefälscht, aber keine Verwendung dafür gefunden und es weggelegt. Trotz Mäusezahn, Feuersbrunst und Wassernot blieb es mindestens 150 Jahre lang – andere Fälschungen auch vier Jahrhunderte – unbeschädigt, dann erinnerte man sich seiner und zog es hervor, weil man plötzlich eine Verwendungsmöglichkeit sah. Diese Mär ist noch schöner als der Begriff „mit antizipatorischem Charakter“.
Schieffer will dann den Bezug unseres gregorianischen Kalenders auf das Konzil von Nikäa retten, doch er ignoriert die Einsicht der katholischen Kirche, dass im Jahr 325 die Osterregel gar nicht formuliert worden ist. Auch bei ihm fehlt der Bezug auf Pedersen, Coyne u. a. [1983].
Weiter prangert der Mediävist meine Methodik an, Zweifel an Karls Größe und Realität zu streuen. Ich tat das freilich nicht, um den Kaiser wegen der unbeantwortbaren Frage nach seinem Geburtsort aus der Geschichte auszuschließen, sondern um zu zeigen, wie dünn und widersprüchlich selbst bei diesem Größten die Überlieferung ist. Während Schieffer [613] Einhard vor mir retten will, überliest er den ersten jemals an Karls Existenz geäußerten Zweifel, geäußert ausgerechnet von ‚seinem‘ Einhard:
„Man könnt mich also mit Recht undankbar nennen, wenn ich die großartigen Taten dieses Mannes, der sich um mich so sehr verdient gemacht hat, stillschweigend überginge und es zuließe, daß sein Leben keine schriftliche Würdigung oder gebührende Anerkennung erhielte – ganz so, als hätte er nie existiert!“ [Einhard, Vorwort; Hvhg. HI].
Dem nach meiner Meinung nicht im 9., sondern im 12. Jh. schreibenden Einhard war klar, warum er die Karls-Vita schreiben musste. Dabei kennt Schieffer die Stoßrichtung meiner Argumentation genau:
„Die eigentlichen Argumente ergeben sich im Vergleich zwischen den Quellen selbst, vor allem aber im Vergleich zwischen Quellen und architektonischer wie archäologischer Evidenz“ [Schieffer, 612].
Deswegen bagatellisiert er sie verzweifelt, ob das nun das spurenlose normannische Erobern des Kontinents betrifft, das zumindest skandinavische und englische Forscher später zum Grübeln gebracht hat, oder das fast vollständige Fehlen der karolingischen Bauten. „Genüßlich zerpflückt Illig einen ziemlich pauschalen Beitrag“ [Schieffer, 614]. Es ist tatsächlich ‚nur‘ eine Karte samt Kommentar von Prof. Albrecht Mann (1925–2003), doch beide zeigen im Detail auf, wo eine Kathedrale, ein Kloster oder eine Pfalz gestanden haben müsste, wenn die Quellen verlässlich wären: aus der Zeit Karls d. Gr. und seiner beiden Nachfolger 417 Klöster, 100 Königspfalzen und 27 Kathedralen! Doch mit den abzählbar wenigen Artefakten werden diese Quellen widerlegt. Schieffer wusste vielleicht nicht mehr, dass er 14 Jahre zuvor von Friedrich Oswald dasselbe Argument gehört hatte:
„Ich erinnere an eine Karte, in der alle Klosterkirchen zur Zeit Karls des Großen im Frankenreich eingezeichnet sind. Wenn man diese Fülle von Belegen der schmalen Anzahl von Baubefunden gegenüberstellt, dann sollte man sich ganz nüchtern klarmachen, daß wir mit einem Minimum an Denkmälern ein Maximum an Aussagen machen. Dabei werden meistens nicht Befunde und Bauformen verglichen, sondern Meinungen von Kollegen über Befunde und Bauformen“ [Oswald in Wolff, 180].
Es handelt sich um eine Aussage von 1984; sie wurde im Beisein von Schieffer und anderer Spezialisten getroffen und von ihnen akzeptiert. Sie ist erst 1996 publiziert worden, nach meiner eigenen Argumentation. Um mit dem „ziemlich pauschalen Beitrag“ fertig zu werden, reduzierte Schieffer nun die karolingische Hochkultur, die er doch unbedingt verteidigen will, dramatisch. Keine Steinbauten wie Aachens Pfalzkapelle;
„realistischer ist es, sich vergleichsweise kleine Gebäude, auch aus vergänglichem Holz vorzustellen, die in der Folgezeit manchen Gefährdungen ausgesetzt waren, vor allem aber vielfach wohl stattlicheren Neubauten aus nachkarolingischen Epochen haben weichen müssen“ [Schieffer, 615].
Plötzlich waren Aachens Pfalzkirche und Aula (Rathaus mit Granusturm), die Aula in Ingelheim oder die Stiftskirche von Hersfeld nicht mehr typische Karolingerbauten. Obwohl hier im Glashaus sitzend, zieht er meine kritische Betrachtung der Aachener Pfalzkapelle ins Lächerliche und kommt zu einem überaus merkwürdigen Schluss:
„Die dazu angestellten stilistisch-baugeschichtlichen Vergleiche mit anderen, jüngeren Kirchen, die immer wieder darauf hinauslaufen, tunlichst auf den Kopf zu stellen, was bislang als Wirkungsgeschichte des Aachener Musterbaus betrachtet wird, sind für das Kernthema des Buches, die Historizität Karls und seines Zeitalters, eigentlich belanglos und mögen von Kunsthistorikern nachgeprüft werden“ [Schieffer, 615; Hvhg. HI].
Wenn das wichtigste, beste Bauwerk eines Bauherrn (und sogar Baumeisters) nicht mehr von ihm stammt, wenn seine Pfalz damals gar nicht bestanden hat und damit auch der kaiserliche Hof mit seinen Dichtern und Denkern, mit seinen Kirchenvertretern und ausländischen Botschaftern nicht existiert haben kann, dann wird die Frage zwingend, ob wir einem grandiosen Trugbild aufsitzen.
Zum Schluss bringt Schieffer [616 f.] noch das Argument, ich hätte nicht „zwischen seriöser und populärer, zwischen veralteter und aktueller Literatur zu unterscheiden“ gewusst. Gerade ‚seine‘ Monumenta Germaniae Historica hat seit dem 19. Jahrhundert Quellen publiziert und kommentiert; sie kann noch heute zitiert werden. Natürlich sind die Meinungen der einstigen Fachleute in vielen Fällen überholt; doch gerade damit und mit vielen anderen, auch populären Meinungen beweist sich die Unzahl der so oft widersprüchlichen Deutungsmöglichkeiten vager urkundlicher Zeugnisse, die Schieffer unangenehm sein muss: Seinen Quellen lässt sich nachweislich fast alles entnehmen. Wenn ich aber Quellen gegen Architektur und Archäologie halte, also ein ungleich besseres Prüfkriterium benutze, dann sei das „eigentlich belanglos“ [Schieffer, 615].
Prof. Dr. Hartmut Boockmann (1934–1998) hat Schieffers Aufsatz nicht nur abgedruckt, sondern ihm auch das Editorial der Zeitschriftennummer gewidmet. Er zog wie zuvor Prof. Horst Fuhrmann den Vergleich mit jenem Wilhelm Kammeier, der nicht nur drei Jahrhunderte, sondern „das ganze Mittelalter als das Resultat einer klerikalen Fälschungsaktion ausgab“ [Boockmann in W]. Tatsächlich hat Kam-meier nicht die uns vertraute Geschichte komplett als Fälschung beurteilt, sondern nur als tendenziös verfälscht. So sah er etwa den berühmt-berüchtigten Gang nach Canossa von König Heinrich IV. zu Papst Gregor VII. als Fälschung durch Klerikale an, wobei er vorwiegend frühe Humanisten – eigentlich Kirchengegner – als Handlanger des Papstes sah. Diesen Vorgang sah er als „Fälschungsaktion“. Aber Kammeier hat nie den Gedanken gehabt, dass ein kompletter, erfundener Zeitabschnitt in die Zeitachse eingefügt worden sein könnte. Boockmanns Einschätzung meines Buchs als „offensichtlich unsinnig“ [W] entstammt keiner eigener Beschäftigung, sondern soll wohl Schieffers Einschätzung mit eigenen Worten ausdrücken. Auf Wunsch könnte ich eine längere Liste von Einschätzungen wie „absurd“ oder „völlig absurd“ zusammenstellen, die nur beweisen würde, dass auch akademische Lehrer lieber voneinander abkupfern als selbst kritisch lesend zu einer eigenen Meinung finden.
Dr. Richard Herzinger (* 1955) wollte einen Mangel der Geschichtsinterpretation auf mich abwälzen, machte aber dabei deutlich, dass sich mein Ansatz keineswegs von dem der Geschichtswissenschaft unterscheidet. Er
„legt dar, dass Illig der Geschichtswissenschaft aufzeige, dass die Deutung der Vergangenheit weitgehend auf gedanklichen Konstruktionen und nicht auf eindeutig belegbaren Fakten beruhe. Herzinger bemängelt, dass Illig mit seiner These jedoch ebenso vorgehe“ [W].
Im Originalwortlaut klingt das so:
„Die Heribert-Illig-Variante der Geschichtsrevision packt die Geschichtsschreibung bei ihrem Anspruch, eine positive Wissenschaft zu sein. Illigs positivistisches Pathos besagt: Alles, was je stattgefunden haben soll, muß sich auch unzweifelhaft belegen und rekonstruieren lassen. Seine superpositivistische Schraubendrehung liegt im Umkehrschluß: Wenn Ereignisse sich nicht anhand authentischen Beweismaterials nachweisen lassen, können sie auch nicht stattgefunden haben. […] Seine Schlußfolgerung, die Jahre 614 bis 91 hätten nie stattgefunden, stützt sich auf präzise Quellenkenntnisse, und seine Argumentation besitzt durchaus immanente Plausibilität. Obwohl die Historikerzunft Illigs Theorie für abwegig hält, fällt es ihr daher schwer, seine Argumente im einzelnen zu widerlegen. […] Damit aber öffnet Illig dem Geschichtsrelativismus eine ungeahnte neue Hintertür. Denn er führt vor, wie auch scheinbar völlig unbestreitbare historische Tatsachen bis hin zur Existenz ganzer Epochen mit den Methoden der Geschichtswissenschaft selbst in Zweifel gezogen werden können. Im konkreten Falle Illigs und seiner Freunde hat dies kaum etwas Bedrohliches, denn sie verfolgen mit ihrem obsessiven Steckenpferd keine erkennbaren politisch-ideologischen Absichten. [Herzinger].
Hätte Herzinger derlei Absichten bei dem damals bereits im Westen bekannten Anatoli Fomenko [1994] mit seinen statistischen Geschichtsberechnungen und seinem Konstrukt einer gloriosen russischen Vergangenheit ins Visier genommen, hätte er den richtigen Adressaten gewählt. An ihm hätte er auch den Unterschied zu mir studieren können. Fomenko demonstriert ein gewaltiges mathematisches Arsenal, schaut aber nur auf Papier und vergisst Archäologie und Architektur. Doch allein mit diesem Korrektiv kann ich bestimmte Zeitabschnitte kritisch hinterfragen. Dieser mein Rückgriff gehört allerdings nicht unbedingt zu den gebräuchlichen „Methoden der Geschichtswissenschaft“.
Dankenswerterweise nicht übernommen haben die Wikipedia-Autoren die wohlüberlegte Attacke Herzingers. Oben war bereits von der konstruierten Nachbarschaft der „Karlslüge“ zur „Auschwitzlüge“ die Rede. Herzinger geht noch weiter:
„Erschreckend ist aber, daß die Illig-Methode strukturelle Ähnlichkeiten mit jener der rechtsradikalen Auschwitz-Leugner erkennen läßt. Auch sie arbeiten nämlich mit einem radikalen Positivismus. Sie messen die Gaskammern aus, analysieren die chemische Beschaffenheit der Wände und rechnen anhand der Meßergebnisse vor, daß Vergasungen gar nicht stattgefunden haben könnten. Solch vermeintliches Faktenmaterial dient ihnen dazu, die Realität der Judenvernichtung in Frage zu stellen“ [Herzinger].
Hier intervenierte sogar der Deutsche Presserat. Als Autor mit einer anderen Stoßrichtung gehört der Germanist Herzinger nicht in die Reihe der kritisierenden Historiker.
Prof. Ekkehard Eickhoffs (1927–2019) Hinweis auf den enormen Aufwand für ein erfundenes Frühmittelalter bleibt vage. Doch der notwendige Aufwand bleibt im Rahmen der mittelalterlichen Fälschungstätigkeit, die nachgewiesenermaßen weder vor Bündeln an Papstbriefen noch ganzen Konzilsakten und Rechtssammlungen zurückschreckte [vgl. Fuhrmann 1988]. Auch auf Eickhoff wurde von uns prompt geantwortet; in diesem Fall durch Gunnar Heinsohn und Paul C. Martin [beide 2000]. Zur Fälschungswut noch ein Zitat zur Präsentation von Kölzers Werk. Über ihn, nicht über mich wurde geschrieben:
„Wenn Prof. Theo Kölzer die Lupe zur Hand nimmt, fangen Kollegen und Geschichtslehrer an zu zittern. Denn der Bonner Historiker deckt gnadenlos auf, was jahrhundertelang verborgen blieb […] Geschichtsbücher, historische Werke, Lexika: einiges wird verändert werden müssen, wenn Kölzer seine [Merowinger-]Ergebnisse vorstellt […] Dem Bonner Forscher entgehen weder gefälschte Datumszeilen noch manipulierte Unterschiften […] Eine wahre Sintflut von Fälschungen entstand in ‚diesen dunklen Zeiten‘“ [Boecker; Hvhg. HI].
Das Jahr 1999
Wikipedia bringt nach Ankündigung der Kölzer-Edition von 1998 nur noch zwei Stimmen, darunter:
„Michael Borgolte sieht bereits 1999 die wissenschaftliche Auseinandersetzung um Illigs Thesen als abgeschlossen an.“ [W]
Doch diesem versuchten Schlussstrich ging eine wichtige Auseinandersetzung voraus. Vom 15. bis 18. März 1999 hat das 8. Symposion des Mediävistenverbandes in Leipzig stattgefunden; Thema: „Karl der Große und das Erbe der Kulturen“. Nachdem sich schon zahlreiche Mediävisten mit meiner These beschäftigt hatten, wurde sie jetzt allen Mediävisten vorgestellt, von ihnen diskutiert und abqualifiziert. Ihr Urheber wurde nicht eingeladen, dafür stellte PD Amalie Fößel (* 1960) ihre Sicht meiner Gedanken vor. Kein Wunder, dass sie keine Gnade fanden. Im Gegenteil: In der anschließenden Diskussion hörte ein US-amerikanischer Teilnehmer, dass meine Arbeiten im Eigenverlag erschienen (was nur zum Teil richtig ist, weil das wesentliche Buch „Das erfundene Mittelalter“ von Econ bzw. Ullstein verlegt wurde) und schloss sofort daraus: wie bei den „Holocaustverleugnern“ [Niemitz, 233]. Ein anderer hatte bereits bedauert, dass gerade die besseren Studenten besonderes Interesse zeigen würden und deshalb gefordert: „Laßt diesen Gedanken nicht in die Köpfe der Jugend!“ [ebd. 231 f.]. Damit war fixiert: Illig erscheint wie ein Rechtsextremer und ist ein Jugendverderber.
Zum Geschehen von 1999 gehört auch die große Ausstellung in Paderborn: „799 Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn ∙ Kunst und Kultur der Karolingerzeit“ vom 23. 7. bis 1. 11. 1999. Unter der Redaktionsleitung von Dr. Christoph Stiegemann (* 1954) und Dr. Matthias Wemhoff (* 1964; heute als Professor der vielleicht bekannteste deutsche Archäologe fürs Fernsehpublikum) wurde streng darauf geachtet, dass weder in der Ausstellung noch auf den 1.700 Seiten der drei Kataloge mein Name auftaucht. Allerdings suchte der Verlag Philipp von Zabern für seine teuren Kataloge (165,- DM) ein verkaufsförderndes Argument und entschied sich vorab für den verkaufsfördernsten Slogan: „Prachtvoller können Illigs Thesen nicht widerlegt werden“ [Abb. Illig 1999a, 240]. Die Stimmung drohte zugunsten des Außenseiters zu kippen, zumal die Ausstellung selbst hinreichend Material für das erfundene Mittelalter lieferte [Illig 1999c].
Da zog Prof. Manfred Borgolte, Humboldt-Universität Berlin, die Notbremse. Vielleicht als Resümee der Leipziger Tagung teilte er am 29. 6. 1999 im Berliner „Tagesspiegel“ der Öffentlichkeit mit:
„Die Mediävisten haben sich fünf Jahre lang intensiv mit Illig auseinandergesetzt. Ich denke, nun ist Zeit, über ihn zu schweigen. Um Illig ist mittlerweile eine pseudoreligiöse Gemeinde entstanden, die langsam Sektencharakter annimmt. Er kann gar nicht mehr von seinen merkwürdigen Thesen zurücktreten und muß weiter für Nachschub sorgen, um seine Gemeinde nicht zu enttäuschen. Das hat mit Gedankenfreiheit nichts mehr zu tun.“ [Bach].
Wir wollen hier nicht weiter darüber nachdenken, dass eigentlich zu jeder Sekte eine Kirche gehört, von der sie sich abspalten kann; wir wollen auch nicht daran erinnern, dass sich fünf Jahre zuvor – am 5. Oktober 1994 – in der Westschweiz eine Sekte Mord und Selbstmord beging, wobei 48 Menschen starben [Schell]; die interessierte Öffentlichkeit hatte nun den Eindruck: Der rechtsradikale und jugendverführende Illig ist obendrein ein Sektengründer!
Die damalige Hysterie der Mediävisten wäre längst vergessen, wenn nicht Wikipedia noch 2009 in heftiger Debatte darauf bestanden hätte, Borgoltes Zitat auf ‚meiner‘ Seite zu bringen. In der Historie dieser Seite ist nachzulesen, dass es sich für die Administratoren um eine Tatsachenbehauptung handle, die nicht unterdrückt werden dürfe. Wir verwiesen darauf, dass es sich um keine Tatsache, sondern nur um eine Behauptung gehandelt habe, denn zehn Jahre später wüsste man schließlich, ob sich eine Behauptung bewahrheitet hat oder nicht: Tatsächlich war sie falsch. Daraufhin wurde diese bösartige Verleumdung – nichts anderes hatte Borgolte geäußert – in die Fußnoten gerückt, wo sie noch heute steht [Einzelnachweis Nr. 23] und davon zeugt, dass den Mediävisten damals wie heute fast jedes Mittel recht war, um meine These und ihren Urheber zu desavouieren und zu verleumden. Die Wikipedia besteht noch heute, 2020, auf dieser Lüge.
Nachklappend bringt die Wikipedia-Seite noch einen Abgesang. Stephan Matthiesen hat festgestellt, „dass ‚sich tatsächlich mehrere Historiker fundiert und detailliert, aber deutlich zu seinen Thesen geäußert haben‘; eine weitere Auseinandersetzung aber nicht weiterführe“ [W].
Er als damaliges Mitglied der Redaktionsleitung der GWUP-Zeitschrift „Der Skeptiker“ brachte 2001 auch einen Beitrag des Archäo-Astronomen Prof. Dieter B. Herrmann (* 1939) zu meinen Thesen. Erstaunlicherweise wurde mir eine Erwiderung gestattet, aus der allerdings für den Druck konsequent alle Namen von Personen getilgt wurden, die zumindest Teilbereiche meiner Ideen goutieren könnten. Damit hatten sich die Skeptiker als Dogmatiker enttarnt, und ich wurde meinerseits sehr skeptisch. Matthiesen hat 2003 selbst einen ähnlichen Schluss gezogen und sich dort verabschiedet:
„Zwar ist ein fairer und sachlicher Umgang ein Leitziel der Skeptikerbewegung, doch Rhetorik und Wirklichkeit liegen selbst bei einflussreichen »Skeptikern« weit auseinander: Menschen mit anderen Blickwinkeln werden nicht als Gesprächspartner, sondern als »Gegner« gesehen, die man auch persönlich angreifen und lächerlich machen kann — emotionale Schlagworte ersetzen fundierte Argumente und der konstruktive Austausch wird verhindert.“ [geos]
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Borgolte hätte gerne bereits 1999 die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit meiner These als abgeschlossen gesehen. Das gelang ihm angesichts der bevorstehenden Millenniumfeiern trotz seiner Verleumdung nicht. À la longue aber setzten sich die Mediävisten durch. Nach Prof. Johannes Laudage (1959–2008), 2002 in Düsseldorf, gab es Podiumsdiskussionen nur noch 2006 in Ingolstadt (mit dem unsäglichen Auftritt eines als Kulturpreisträger geehrten Rüpels, * 1930) und 2013 in Graz, hier mit dem Historiker Prof. Johannes Gießauf (* 1968) und dem – bislang einzigen mutigen – Archäologen Prof. Manfred Lehner (* 1963). Aufs Ganze gesehen hat die Wikipedia einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, die These vom erfundenen Mittelalter niederzuhalten und zu desavouieren, hartnäckig auch nach Abgang der Donaldistin. So tragen die zuständigen Wikipedia-Autoren von sich aus z.B. keines meiner neu erschienenen Bücher nach; es soll ja nicht objektiv informiert werden. Dabei können – ich kenne mehr als ein Beispiel – andere Querdenker ihre eigene Wikipedia-Seite ohne jede kritische Prüfung selbst schreiben. Aber vielleicht ist es hier wie anderswo: Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben. Mit dem Leben abgeschlossen hatte zeitweilig die mediävistische Fakultät, gab doch Fried seiner ursprünglichen Rede von 1995 den Titel: „Die Garde stirbt und ergibt sich nicht.“ Er und seine Fachkollegen konnten bislang das schlimmste verhindern.
Literatur
Alle Artikel aus der Zeitschrift Zeitensprünge sind mittlerweile im Internet einsehbar: http://www.zeitensprünge.de/ im „Archiv der Printausgaben“
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Boecker, Alexander (1998): Theo Kölzer untersucht Urkunden der alten Könige. Bonner überführt Fälscher aus dem Mittelalter; Bonner Express, 14. 07.
Coyne, George V. S.J. / Hoskin, Michael A. / Pederson, Olaf (1983): Gregorian Reform of the Calendar ∙ Proceedings of the Vatican Conference to Commemorate Its 400th Anniversary 1582 – 1982; Specula Vaticana, Città del Vaticano (= Staat Vatikanstadt)
EuS = Ethik und Sozialwissenschaften ∙ Streitforum für Erwägenskultur (Hgg. Frank Benseler, Bettina Blanck, Rainer Greshoff, Reinhard Keil-Slawik, Werner Loh). In 1997 (erschienen 1998): 8 (4) 481-520. Ab S. 481 „Anfrage“ von Heribert Illig: Enthält das frühe Mittelalter erfundene Zeit? Ab S. 483 „Stellungnahmen“ von Gerd Althoff, Werner Bergmann, Michael Borgolte, Helmut Flachenecker, Gunnar Heinsohn, Theo Kölzer, Dietrich Lohrmann, Jan van der Meulen, Wolfhard Schlosser. Ab S. 507 „Replik” von H. Illig
Faussner, Hans Konstantin (1988): Zu den Fälschungen Wibalds von Stablo aus rechtshistorischer Sicht; in H. Fuhrmann (Hg. 1988) III: 143-200
Fomenko, Anatoli T. (1994): Empirico-Statistical Analysis of Narrative Material and its Applications to Historical Dating. Volume 1: The Development of the Statistical Tools. Volume 2: The Analysis of Ancient and Medieval Records; Kluwer, Dordrecht ∙ Boston
Fried, Johannes (1996b): Vom Zerfall der Geschichte zur Wiedervereinigung. Der Wandel der Interpretationsmuster; Oexle, Otto Gerhard (Hg. 1996): Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts; Wallstein, Göttingen, 47-72
– (1996a): Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichte; Historische Zeitschrift, CCLXIII (2) 291-316
[Den zugrunde liegenden Vortrag hatte er bereits im November 1995 gehalten und trug im Vorabdruck der F.A.Z. den Titel: „Die Garde stirbt und ergibt sich nicht. Wissenschaft schafft die Welten, die sie erforscht: Das Beispiel der Geschichte“.]
Fuhrmann, Horst (Hg. 1988): Fälschungen im Mittelalter ∙ Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica ∙ München 16. – 19. September 1986 (5 Bände); Hahn, Hannover
geos = https://www.geos.ed.ac.uk/~smatthie/old/text_SkeptikerPosition.de.html
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– (1997): Aachens Pfalzkapelle gerät in Bewegung ∙ Ein Wendepunkt in der Mittelalterdebatte; Zeitensprünge, 9 (4) 657-666
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W = Wikipedia-Artikel „Heribert Illig“
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