Eine aktuelle Reminiszenz von Heribert Illig
Derzeit geistert die berüchtigte K-Frage durchs Land. Wem ist es vergönnt, in die Schühchen von Angela Merkel zu schlüpfen und Bundeskanzler zu werden? Neben dem neugewählten Parteivorsitzenden Armin Laschet (und seinem direkten Vorfahren Karl dem Großen) stehen noch immer die übrigen Kandidaten aus Nordrhein-Westfalen parat, also Friedrich Merz, Jens Spahn und Norbert Röttgen, auch wenn der eine durch seine Selbsternennung zum Wirtschaftsminister, der andere durch sein anfechtbares Corona-Management, der dritte durch seine Wahlplatzierung beschädigt ist. Unverändert sehen sie das „mene tekel u-parsin“ an der Wand: Gezählt, gewogen und zu leicht befunden. Denn da ist ja noch der heimliche König Bayerns, der gelegentlich in seinem Schloss Herrenchiemsee hohen Besuch empfängt. Doch zu Markus Söder heißt es immer wieder, ein Baier könne sich im Norden nicht durchsetzen, wie Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber leidvoll erfahren mussten.
Nur notorische Optimisten kommen da mit dem Namen Ludwig Erhard um die Ecke. Er habe als gebürtiger Fürther die Bundesrepublik vom 16. 10. 1963 bis zum 30. 11. 1966 geführt. Das ist zwar richtig, aber mit was für einem Stallgeruch! Denn Erhard kandidierte von 1949 bis 1969 immer für den Wahlkreis Ulm, der nun einmal in Baden-Württemberg liegt. Auch zog er 1972 und 1976 über die Landesliste Baden-Württemberg in den Bundestag ein. Gravierender noch ist der Umstand, dass er nie Mitglied der CSU, sondern immer der CDU war. Nur von Oktober 1945 bis zum Dezember 1946 gehörte er als Parteiloser der Bayerischen Staatsregierung an, hatte ihn doch die amerikanische Militärregierung als Staatsminister für Handel und Gewerbe berufen. Damals war unter Wilhelm Hoegner die SPD am Ruder des Freistaats. Als 1946 die CSU dieses Ruder übernahm, servierte sie Erhard sofort ab. Wer nicht Parteimitglied der CSU, der auch nicht Baier.
Da Erhard im mittelfränkischen Fürth, wo seine Eltern ein Textilgeschäft betrieben, geboren worden ist, darf man ihm trotzdem zu Recht bescheinigen, dass er ein bayerischer Bundeskanzler gewesen ist. Insofern würde der aus Nürnberg stammende Markus Söder nicht einmal als erster Mittelfranke zum Bundeskanzler gewählt.
Doch es kommt noch besser, denn wie steht es mit Helmut Kohl? Er hatte von 1982 bis 1998 das Amt des Bundeskanzlers inne, länger als jeder andere Kanzler (Merkel wird im Herbst dieses Jahres gleichziehen). Er gilt wegen seines Wohnsitzes als „der Oggersheimer“. Doch er ist keineswegs in diesem Stadtteil von Ludwigshafen geboren worden, sondern in Friesenheim, seit 1892 Stadtteil von Ludwigshafen. Dort lebten seine Eltern. Gemäß den Lorscher Annalen taucht der Ort für 771 in den Lorscher Annalen auf, hatte doch unter Karl d. Gr. eine Hita ihren Friesenheimer Besitz dem Kloster Lorsch geschenkt.
Wäre Kohl in Oggersheim geboren worden, gäbe es sogar eine Urkunde von 769, doch wäre er dann kein Ludwigshafener, weil Oggersheim erst 1938 eingemeindet worden ist. Als Friesenheimer war er ein echter Ludwigshafener. Doch an wen erinnert dieser Ortsname? Nun, an König Ludwig I. von Bayern, da die private Handelsniederlassung 1843 vom bayerischen Staat erworben und als wirtschaftliches Kontrastprogramm zu Mannheim gefördert worden ist. Doch warum Bayern?
Die Wittelsbacher, mit 803 Regierungsjahren eine der ältesten Dynastien Europas, erhielten 1180 das Herzogtum Bayern von den Welfen und 1214 die Kurpfalz ebenfalls von den Welfen. Ihnen stand damit die Kurwürde zu, das Recht, den römisch-deutschen König zu wählen. Wir übergehen hier die vielfältigen politischen Veränderungen, die auch die pfälzische Landkarte betrafen. Entscheidend ist hier, dass 1778 die Mannheimer Residenz von der bayerischen Pfalz Bayern nach München verlegt worden ist. Nach dem napoleonischen Intermezzo wurde die Pfalz 1806 Teil des neugegründeten Königreichs Baiern, das König Ludwig I. dann 1825 seinem Isar-Athen zuliebe zu „Bayern“ erhöhte, nur eine Woche nach seiner Krönung. Seit dem 1. 5. 1816 gehörte nur die linksrheinische, doch damals vergrößerte Pfalz zu Bayern, und das bis …?
Selbst gestandene Altbaiern geben hier gerne falsche Antworten, etwa 1870 oder 1918. Nein, die Pfalz, zuvor Rheinkreis oder Rheinpfalz oder Rheinbayern oder Bayerische Pfalz, blieb bis zum 30. 8. 1946 bayerisch. Daran können auch zwei französische Besetzungen nichts ändern: von Ende November 1918 bis zum 30. 6. 1930, als die französischen Truppen die Pfalz räumten, und vom Kriegsende 1945 bis zum 30. 8. 1946, als sie durch französischen Erlass in das neugebildete Land Rheinland-Pfalz integriert wurde.
Helmut Kohl ist am 3. 4. 1930 in Ludwigshafen geboren worden, noch unter französischer Besatzung. Er war demnach ein Besatzungskind, aber zweifelsfrei ein Baier. So werden die Bewohner von Bayern genannt, das ein politisches Territorium darstellt. Großzügig wird seit Ludwig I. nicht nur das heutige Bayern, sondern auch das frühere Herzogtum und Kurfürstentum als „Bayern“ tituliert.
Insofern war Kohl sowohl ein Baier, als auch in Bayern geboren. ‚Eigenartigerweise‘ wollten davon weder Helmut Kohl noch Franz Josef Strauß etwas wissen. Als jüngst in der Süddeutschen Zeitung gerätselt wurde, ob man Erhard als bayerischen Kanzler bezeichnen dürfe, wagte ich den hier ausführlicher dargelegten Hinweis auf den Baiern Kohl aus Bayern. Das führte noch am selben Tag zu einer Abweisung des Leserbriefs. Der Fiktionalisierung Karls des Großen widmete die Zeitung immerhin drei Streiflichter, aber bei einem baierischen Kohl hört jedes Verständnis auf…