von Heribert Illig
Schon immer ist Geschichte von den Siegern geschrieben worden. Dafür muss man nur die Nationalepen wie die Nationalgeschichte vieler Völker und Zeiten betrachten. Wobei oft nicht mehr erkennbar ist, wo Geschichte geschönt worden ist oder wann eine Niederlage dem Kollektivbewusstsein nicht mehr erträglich war.
So mag es auch dem Mathematik-Professor Anatoli Fomenko (*1945) gegangen sein, der im Niedergang der Sowjetunion damit begann, Geschichtsabläufe zu vergleichen und sich wiederholende Muster zu finden glaubte. Im Ergebnis stellte er fest, ein Block von etwa 300 Jahren wiederhole sich mehrmals in der Geschichte. Das gelte für frühes und hohes Mittelalter, für Römerzeit und Byzanz, außerdem für jüdische Geschichte. Geschichte als Konstrukt – der Gedanke war nicht neu, aber nun weitete er sich zu neuen Dimensionen. Im Frühjahr 1995 erschien sein erstes englischsprachiges Buch zu dieser Thematik. Reaktionen von Mediävisten waren zunächst nicht zu lesen. Dafür schrieb ich vor dem 2. April 1995 meine Rezension, in der ich zunächst Methodik und Resultate schilderte. Auffällig war, dass ihm Regentenlisten ganz vorrangig waren, dazu Rückrechnungen astronomischer Ereignisse, während Archäologie nur eine marginale Rolle spielte. Zur Illustration: Fomenko setzt Christus und Papst Gregor VII. gleich und errechnet aus einer astronomischen Konstellation die Geburt Jesu für das Jahr 1053 n. Chr.! Eine ‚Schlussfolgerung‘ daraus: Die Pyramiden von Gizeh und die gotischen Kathedralen in Europa sind zeitgleich entstanden. Doch das Besondere war: Fomenko ist ein international anerkannter Spezialist für bestimmte Gebiete der Mathematik wie etwa Topologie; er hat(te) einen Lehrstuhl für Mathematik an der Lomonossow-Universität in Moskau; Sympathisanten wie Garry Kasparov (Schachweltmeister von 1985 bis 2000) hoben sein Renommee im Land.
Zusätzlich vermittelte uns Fomenkos Sachwalter in Deutschland, Eugen Gabowitsch, weitere Details, die erschauern ließen: Russland wäre seit Iwan dem Schrecklichen Europas Nummer Eins gewesen und hätte deshalb von den anderen Ländern des Kontinents Tribut erhalten; Chinas Kultur habe erst mit den Jesuiten begonnen, die gegen 1600 dort missionierten. Erst danach wäre die Schrift entstanden, auch alle Kunstwerke, die chinesische Kultur ausmachen, ob nun Bronzegüsse, Tuschemalerei oder die Vorstufen der großen chinesischen Mauer.
Eine erste Konterattacke ritt 2002 der Brite Gavin Menzies. Für ihn hätte China im Jahr 1421 die Erde entdeckt. Damals hätten chinesische Seefahrer alle Kontinente einschließlich der Antarktis besucht, dazu Grönland und Asien im Norden umrundet. Nur die Einfahrt ins Mittelmeer sei ihnen entgangen, weshalb sie keinen Kontakt zu Zentren europäischer Kultur und Seefahrt bekommen hätten. Auf jeden Fall wären Chinas Flotten den europäischen vorausgewesen, aber China noch nicht Urheber aller Kultur [vgl. Illig 2008].
2013 begann in China eine chronologisch-historische Großoffensive, die sich gleichermaßen gegen Russland wie gegen das gesamte Abendland richtet. Chinesische Wissenschaftler wollen eine „historische Verschwörung“ aufgedeckt haben, wie Mark Siemons [2021] in der F.A.Z. detailliert dargestellt hat. Demnach vertreten Kulturwissenschaftler der Zhejiang-Universität die Sicht, europäisches Großmachtstreben habe seinen Anspruch dadurch untermauert, dass es erst im 19. Jh. die Pyramiden genauso wie den Parthenon errichten ließ. Die in Hangzhou, rund 180 Kilometer südwestlich von Shanghai lehrenden Geschichtshasardeure haben aber noch keine einheitliche Meinung. Einige Kulturwissenschaftler wie He Xin halten die antike griechische Philosophie für ein Produkt italienisch-freimaurerischer Bankiers aus Florenz. Andere wie Dong Bingsheng gehen weiter: Das alte Rom habe keine Geschichte, wie es im Westen ohnehin gar keine ursprüngliche Kultur gäbe. Laut Zhu Xuanshi fuße westliche Kultur durchwegs auf chinesischen Errungenschaften, die von chinesischen Auswanderern nach Europa gebracht worden seien.
Derartige Ansichten werden vom chinesischen Mainstream bislang in keiner Weise geteilt. Aber die Stoßwirkung ist klar. Vor fast 100 Jahren hatten Vertreter einer kritischen Schule wie Hu Shi oder Gu Jiegang das eigene chinesische Erbe attackiert, indem sie statt einer 5.000-jährigen chinesischen Geschichte nur noch eine 2000-jährige sahen – ‚selbstverständlich‘ ein freimaurerische Attacke gegen das chinesische Selbstwertgefühl. Für die Gruppe von Zheijiang müsse China jetzt diese Selbstverstümmelung abstreifen und seine Kultur, seine Kulturträgerrolle global zur Geltung bringen. Dafür sei jedes Mittel recht, was Fakten oder wissenschaftliche Standards angehe. Soweit Siemons.
Der Unterschied zwischen Russland und China liegt darin, dass Fomenko seit 1994 vollwertiges Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften ist und insofern auch in Bezug auf kritische Historie einen gewissen Freiraum genießt, während die chinesischen Geschichtsklitterer zwar Bücher publizieren, aber von den dortigen Historikern nicht akzeptiert werden.
Meine Fomenko-Rezension von 1995 schloss ich mit der Frage, wie das universitäre Establishment reagieren werde:
„Erleichterung, weil sich endlich einer in die schon immer (?) gesehene Bresche wirft, maßlose Verblüffung ob des nie (?) bemerkten Faktenbestandes oder – so meine ‚probabilistische‘ Mutmaßung – endgültige Tabuisierung jedes Gedankens an die überfällige Chronologiereform?“ [Illig 1995, 121].
Soweit ich nunmehr sehe, haben deutsche Historiker zumindest nach außen hin 1995 nicht geantwortet, also nur Ignoranz gezeigt. Der Wikipedia-Artikel „Chronologiekritik“ listet zwar viele Vertreter von Außenseitermeinungen auf, nennt aber keine Kritiken der Thesen Fomenkos. Dafür begann Ende des Jahres 1995 die Diskussion meiner Mittelalterthesen, eingeleitet durch Prof. Johannes Fried, die teils korrekt, zum größten Teil jedoch ehrabschneidend geführt wurde – anstelle sachlicher Argumente gab es Einschätzungen wie Neonazi, Jugendverführer, Sektengründer oder Verschwörungstheoretiker – nur zum Freimaurer ‚hat es nicht gereicht‘. Diese aus dem Ruder gelaufene Debatte endigte letztlich mit der zu erwartenden Tabuisierung.
Es gab auch interne Probleme. Als Herausgeber der Zeitensprünge sah ich es als meine Aufgabe an, nicht nur meine eigenen Thesen vorzutragen, sondern auch andere kritische Meinungen zu Wort kommen zu lassen und gegebenenfalls zu unterstützen. Das wurde mir nicht immer gedankt. Eugen Gabowitsch (1938–2009) versuchte erst eine friedliche, dann eine feindliche Übernahme der Zeitensprünge; sein China-Vortrag auf dem Jahrestreffen 1998 beendete die kurze Zusammenarbeit [Schmidt], auch wenn er den Abdruck seines China-Aufsatzes noch durchsetzen konnte.
Er wurde dabei von Uwe Topper (*1940) unterstützt, der ohne Vorankündigung in einem rechtslastigen Verlag publizierte und die ganze Gruppierung desavouierte, weshalb sich die Herausgeber von ihm distanzierten [Illig 1998]. Gabowitschs Geschichtssalon in Karlsruhe bot Topper eine neue Plattform. Christoph Pfister (*1945), ebenfalls ein Autor der Zeitensprünge, hielt 1999 im Geschichtssalon von Gabowitsch seinen „Anti-Illig-Vortrag“, worauf er nicht mehr in den Zeitensprüngen gedruckt worden ist. Er gilt heute als Parteigänger Fomenkos [wiki: Anatoli Timofejewitsch Fomenko].
Wie steht es nun bei Fomenko und den chinesischen Autoren mit der Geschichtskritik? Ist sie überhaupt noch seriös möglich? Die Antwort ist einfach: natürlich. Schließlich gibt es denn doch Kriterien, um gewissenhafte Arbeit zu erkennen. Dazu gehört der korrekte Umgang mit den Sekundärquellen, ihre Nennung und ihre korrekte Zitation. Dazu gehört die Ausschöpfung des vorhandenen Materials, das sich nicht – wie manche hiesige Mediävisten immer noch glauben – in der Auslegung schriftlicher Primärquellen erschöpft, sondern alle Befunde der Archäologie einbezieht, naturwissenschaftliche Methoden zu Datierungen und Archäoastronmie eingeschlossen, weiter auch die Mythenforschung. Schließlich muss jeweils geprüft werden, ob und inwieweit manch ein sperriges Ergebnis dezent ‚synchronisiert‘ wird, um das Gesamtbild nicht hinterfragen zu müssen. So habe ich noch Jahre später, als ein langer Aufsatz von Andreas Tschurilow die Überreste Pompejis ganz im Sinne Fomenkos interpretierte, die archäologische Argumentation Punkt für Punkt widerlegt [Illig 2010].
Die westlichen Historiker bestehen nicht wie die Zeitenspringer aus einer Handvoll engagierter Chronologiekritiker, sondern vereinen Zehntausende akademisch gebildeter Köpfe. Da sollten denn doch ausreichend viele darunter sein, die Geschichtsklitterung erkennen und aufklären können. Schweigen und Aussitzen wird vielleicht genügen, offensichtlichen Unsinn niederzuhalten, aber auch westliche Geschichte verlangt stete Prüfung und Kritik, sonst wird daraus eine Veranstaltung von Gläubigen, nicht von kritischen Geistern. Dieser Eindruck ist leider im deutschen Sprachraum nicht ganz von der Hand zu weisen.
Literatur
Die genannten Zeitensprünge-Artikel sind unter „zeitensprünge.de“ im Internet verfügbar.
Fomenko (1994): Empirico-Statistical Analysis of Narrative Material and its Applications to Historical Dating. Volume 1: The Development of the Statistical Tools.Volume 2: The Analysis of Ancient and Medieval Records; Kluwer, Dordrecht [erschienen im ersten Quartal 1995]
Gabowitsch, Eugen (1999): China: Wie entstand und wie richtig ist die Chronologie des Altertums? Zeitensprünge, 11 (1) 118-129
– (1998): Chinesische Geschichte; Vortrag am 23. 05. auf dem Zeitensprünge-Jahrestreffen in Leonberg
Illig, Heribert (2010): Fomenko und die Folgen. Pompeji als Beispiel für historisches Freibeutertum; Zeitensprünge, 22 (1) 218-234
– (2008): Amerika, China und der Rest der Welt? Gavin Menzies und Alexander v. Wuthenau; Zeitensprünge, 20 (2) 459-473
– (1999): Erläuterung des Herausgeber [Entgegnung auf Gabowitsch]; Zeitensprünge, 11 (1) 138
– (1998): Tropfen, Faß und Überlauf; Zeitensprünge, 10 (4) 631-643
– (1995): Fomenko – der große, statistische Wurf? Rezension und Standortbestimmung; Zeitensprünge, 7 (2) 104-121
Menzies, Gavin (2004): 1421 ˑ Als China die Welt entdeckte; Knaur, München (12002: 1421 ˑ The Year China Discovered the World; Bantam, London)
Pfister, Christoph (2000): Bern – eine Zähringerstadt im Lichte ihrer ältesten Urkunde. Mit Seitenblicken auf Freiburg im Uechtland und Villingen; Zeitensprünge, 12 (1) 152-173
Schmidt, Hanjo (1998): Zu Morosows Chinathesen; Zeitensprünge, 10 (3) 497-505
Siemons, Mark (2021): Das historische Komplott ˑ Auch in China gibt es Querdenker, die gegen den Mainstream anrennen: Der ganze Westen sei eine missratene Kopie Chinas, behaupten sie; F.A.Z., 05. 03.
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