Brenner – warum einfach, wenn es auch schwierig geht? Zur Datierung der ‚Reichsannalen‘

von Heribert Illig

Der große Karl ist des Öfteren über die Alpen gezogen, anno 786 sogar im Winter. Da braucht es nicht zu wundern, dass er 773 für den Krieg gegen die Langobarden sein Heer geteilt und auf zwei getrennten Römerwegen über die Alpen geführt hat: über den Großen St. Bernhard und über den Mont Cenis [Reichsannalen, a. 773]. Ob die Zweiteilung sinnvoll war bleibe dahingestellt, denn die Chance dafür, dass wenigstens eine Hälfte Italien erreicht, könnte sich dadurch verbessern, doch was würde er mit halbierten Heer gegen den Feind ausrichten? Für seine Italienzüge von 776, 780, 786, 787 und 800 werden keine Pässe explizit genannt.

In den ‚Reichsannalen‘ (Annales regni Francorum) steht Diedenhofen, also Thionville als letzter Aufenthaltsort Karls vor dem Langobardenzug, dicht beim Dreiländereck Deutschland – Frankrei<small>ch – Luxemburg. Die einigermaßen direkte Linie würde über den Gotthard-Pass führen, doch der ist von den Römern nicht ausgebaut worden, von den Herrschern im frühen und hohen Mittelalter ohnehin nicht. Insofern wich der Karolinger nach Westen aus, hätte aber auch eine Römerstraße weiter östlich wählen können. Denn Reschenpass (1.504 m Scheitelhöhe) und vor allem Brenner (1.370 m) sind deutlich niedriger als der Große St. Bernhard (2.469 m) und der Mont Cenis (2.083 m). Wir wissen, dass Karl kein Hindernis scheute, aber seine Truppen wären sicher für jeden ersparten Höhenmeter dankbar gewesen. Außerdem reichte die Lombardei im Osten bis zum Herzogtum in Cividale del Friuli, dicht an der heutigen Grenze zu Slowenien. Pavia hätte sich von Nordwesten wie von Nordosten attackieren lassen.

Warum werden in den ‚Reichsannalen‘ nur diese beiden Pässe genannt? Der eine war den Römern wohlbekannt: Sie nannten den Großen St. Bernhard „mons Iovis“, also Jupiterberg, den bereits Kaiser Konstantin I. überschritten hatte. Der Mont Cenis wurde erst mittelbar durch den Investiturstreit bekannt. Damals haderte König Heinrich IV. mit Papst Gregor VII. Es ging um die Einsetzung von Bischöfen durch die weltliche Macht, vom Ergebnis her (Wormser Konkordat von 1122) um den Primat der Kirche bei der Investitur. Ähnliche Verträge sind von der Kurie bereits vorher mit England und Frankreich abgeschlossen worden.<small>

Erst forderte Heinrich die Abdankung Gregors VII., des maßgeblichen Gestalters päpstlicher Kirche. Dieser exkommunizierte 1076 den König ein erstes Mal, sprach ihm die Herrschaft ab und entband alle Christen von ihm geleisteten Eiden [Althoff, 141]. Daraufhin musste Heinrich die Abwahl durch die deutschen Fürsten fürchten. Dem beugte er mit dem berühmt-berüchtigten ‚Gang nach Canossa‘ vor. Der Alpenübergang am Mont Cenis geschah laut Lampert von Hersfeld im tiefsten Winter; die Pferde habe man mit zusammengebundenen Beinen hinuntergeschafft, die Königin auf Rinderhäuten befördert [Althoff, 152]. Doch es gab noch schwierigere logistische Probleme. Der Papst kam von Rom und wollte über die Burg Canossa nach Augsburg zu den Fürsten. Dafür erbat er sich von ihnen Geleitschutz. Der König kam von Norden und hätte den kürzesten Weg über den Brenner nach Canossa gehabt, das südlich von Parma und Reggio Emilia am Nordrand des Apennins liegt.

„Alsbald beschlossen sie [die Fürsten] jenes Treffen in Ulm, das der Witterung wegen nur von wenigen besucht werden konnte. Das Wetter und die knappe Frist mußten auch ihr Geleit [für den Papst] vereiteln. Der Geleitsabschnitt, der ihnen zufiel, die Straße über den Brenner zu den Veroneser Klausen, lag zudem im Machtbereich Welfs von Baiern; Gefahr drohte ihnen hier nicht – wohl aber dem König, der nicht zuletzt deshalb den Umweg über Burgund gewählt hatte“ [Fried, 78].

Also wegen der Passsperrungen durch die süddeutschen Herzöge war der König in großer Eile nach Besançon und von dort über den Mont Cenis (2083 m) nach Canossa gezogen. Am Todestag von Karl d. Gr., am 28. 1. 1077 hebt der Papst dort den Bann des Königs auf. Nun dreht sich Volkes Stimmung um 180 Grad.

„Wie aber reagieren die Bayern? Als Heinrich IV. im Frühjahr 1077 zu ihnen kommt […], schlägt ihm Begeisterung entgegen. Auf Bayern und die rheinischen Städte kann er hinfort am sichersten zählen“ [Schrott, 43].

Das ändert aber nichts daran, dass es im Reich tumultuarisch weitergeht. Dem Papst ist mangels Geleit die Reise nach Augsburg zu unsicher. Die Fürsten wählen in Forchheim am 15. 03. 1077 trotz Canossa mit Rudolf von Rheinfelden einen Gegenkönig.

„Für Heinrich IV. bedeutete die geschlossene Gegnerschaft der drei süddeutschen Fürsten, Bertholds von Kärnten, Welfs von Bayern und Rudolfs von Schwaben, daß ihm die Alpenpässe und damit der Rückweg von Italien gesperrt worden waren“ [Spindler, I:327].

Nur die Eppensteiner aus Kärnten ermöglichen ihm den Heimweg über ihr Land [ebd.]. Danach widersetzt sich Heinrich Abmachungen zur Investitur und wird 1080 erneut vom Papst gebannt. Im Herbst dieses Jahres stirbt Gegenkönig Rudolf im Kampf gegen Heinrich. Nun wird ein Gegenpapst bestimmt und Heinrich kämpft sich den Weg bis Rom frei; dort wird Clemens III. als Gegenpapst inthronisiert, der Heinrich zum Kaiser krönt. Die Normannen können Papst Gregor nicht auf den Stuhl Petri zurückhelfen, brandschatzen aber Rom. Gregor VII. stirbt im Exil; Paschalis II. als sein übernächster Nachfolger exkommuniziert Heinrich IV. 1102 ein drittes Mal. Der wird von seinem Sohn, Heinrich V., entmachtet und stirbt am 7. 8. 1106.

Zuvor hatte Heinrich noch erleben müssen, dass der unberechenbare Bayernherzog Welf I. ein ‚Mittelreich‘ zimmert. Bei ihm handelt sich um den Sohn des Azzo II. von Este und der Welfin Kunigunde (in der Familientradition Welf IV.). Als bayerischer Herzog regiert er von 1070 bis 1077, dann schaltet ihn Heinrich IV. aus und regiert Bayern selbst bis 1095.

Welf I. bringt 1089 dank Papst Urban II. die Vermählung seines Sohnes Welf II. mit Mathilde von Tuszien, der Herrin von Canossa zustande. Das ließ an ein „toskanisch-estisch-bayerisch-schwä­bi­sches Reich“ denken:

„was das für einen deutschen Kaiser bedeutet, bekommt Heinrich IV. bald zu spüren: lange Zeit sitzt er in einer Falle zwischen dem Sperriegel im Süden und den Gebirgspässen, die Welf besetzt hält“ [Schrott, 43 f.].

Von 1093 bis 1096 saß Heinrich IV. im Umkreis von Verona fest [Althoff, 211]. Seine mächtige Position erlaubte dem Welf vieles:

„Als Herr der Alpenpässe war er im Stande, eine Zusammenkunft Heinrich’s mit dem Ungarnkönige Koloman zu vereiteln. Ja er betrieb sogar die Wahl eines neuen Gegenkönigs“ [Deutsche Biographie: Welf I. (in der Familienreihe Welf IV.)].

Die besitzorientierte Pseudo-Ehe zwischen dem 17-jährigen Welf V. und der über 40-jährigen Mathilde hält nur bis zum Sommer 1095. Beide Welfe versöhnen sich mit dem Kaiser Heinrich IV. und Welf I. wird wieder eingesetzt.

„Nach zwanzigjährigem Kampf wurde im Sommer 1096 Welf IV. in Verona wieder mit dem bayerischen Herzogtum belehnt, und für den Kaiser ergab sich durch die damit verbundene Öffnung der Alpenpässe die Möglichkeit, nach Deutschland zurückzukehren“ [Spindler, I:331].

1097 konnte Heinrich deshalb das Pfingstfest in Regensburg feiern [Althoff, 223]. Der Zustand hält nun bis zum Tod von Welf I., 1101, auf dem Kreuzzug. Auf jeden Fall war die jahrelange Sperrung der Alpenpässe im Reich ein unerhörtes Ereignis, das nicht nur damals für großes Aufsehen sorgte, sondern auch in allen Chroniken und Geschichtsbüchern vermerkt ist [etwa Orlop, 154].

Nun zurück ins 9. Jh. Damals sollen die ‚Reichsannalen‘ geschrieben worden sein, nach überholter Meinung von Einhard. Bislang habe ich die Meinung vertreten, dass sie wegen ihres astro­nomisch anspruchsvollen Wissens und der relativen Genauigkeit dieser Angaben – Gradangaben je Sternzeichen, Merkurdurchgang, Sonnenflecken – erst zu Ende des 12. Jh. geschrieben sein können [vgl. Illig 1996, 91-96]. Nun tritt eine weitere Untergrenze hinzu. Der Schreiber hatte in Erinnerung, dass eine Zeitlang selbst ein deutscher König nicht über den Brenner nach Rom reisen konnte, sondern den gefahrvollen Umweg über die deutlich höheren westalpinen Pässe wählen musste. Das dürfte meiner Meinung nach der Grund sein, dass Karl der Große mit einem Heeresteil auf den Spuren Konstantins d. Gr., mit dem anderen Heeresteil auf den Spuren Heinrichs IV. gewandelt wäre.

Fraxinetum

Nach Karl, aber vor Heinrich IV. soll der Mont Cenis von einer ganz anderen Truppe beherrscht worden sein: von arabischen Seeräubern. Sie sollen sich 887 in der Provence im Hinterland des heutigen Saint-Tropez angesiedelt haben, im heutigen La Garde-Freinet. Wenn Liutprand von Cremona als maßgeblicher Chronist von einer uneinnehmbaren Festung direkt am Ufer spricht, dann passen La Garde-Freinet und das „Massif des Maures“ nicht, da ca. 20 km vom Meer entfernt über viele Serpentinen erreichbar. Angeblich gab es im erfundenen Mittelalter mehrere derartige arabische Ansiedlungen am nördlichen Mittelmeerufer, so auch in Italien, von denen aus Rom anno 846 geplündert worden sein soll. Arabische Quellen nahmen davon kaum Kenntnis, ähnlich wie im Falle der Schlacht von Tours und Poitiers; bei Ausgestaltung erfundener Zeit war die interkulturelle Abstimmung zu schlecht. Diese Sarazenen oder Berber sollen von ihrem ‚Privatstaat‘ aus weit ausgegriffen haben.

„Von Fraxinetum stießen die Mauren 930 nach Grenoble, bis Vienne, Asti und 939 sogar bis St. Gallen vor, besetzten die Alpenpässe (960 Großer St. Bernhard) und beherrschten Teile der Provence“ [wiki: Fraxinetum]

Die englische Wikipedia zählt weitere Exkursionen auf, darunter auch zum Mont Cenis, der uns wie der Große St. Bernhard im Zusammenhang mit Karl d. Gr. interessiert:

„By 906, they controlled the pass of Mont Cenis between Provence and Italy. In that year, they attacked or occupied Acqui, Oulx and Susa in Italy [Piemont, Turin].[8] According to the 11th-cen­tu­ry Chronicon Novalicense, they threatened the Abbey of Novalesa on this occasion. By 911, they were in control of all the western Alpine passes, from which they could collect tolls on traders and pilgrims. Between 915 and 918, they raided Embrun, Maurienne and Vienne. In 920, there were more attacks in Italy and on Marseille and Aix-en-Provence in western Provence“ [en.wiki: Fraxinetum].

Bis Turin sind es über die Alpen hinweg bis 400 km Fahrstrecke, bis St. Gallen sogar 500 km Luftlinie. Schriftquellenfixierte Wissenschaft wagte hier nur verhaltene Kritik. Der Archäologe findet selbst im lange verlassenen Fort Freinet nur hochmittelalterliche Höhlenbehausungen ohne irgendwelche sarazenischen Spuren [la-garde]. Aus Sicht des bis 911 angesetzten erfundenen Mittelalters ist große Skepsis angesagt, auch wenn es später Kunde von Verhandlungen mit Otto I. gibt. 972 sollen die Piraten – Jack London wählte in anderem Zusammenhang den schönen Ausdruck „sailor on horseback“ – besiegt oder vertrieben worden sein. Zweifel gibt es zumindest an der Verbindung mit Cluny:

„Auslöser für die Vertreibung – dabei muss diese keineswegs Ziel der Militäraktion gewesen sein – war die Entführung des Abtes Maiolus von Cluny in den Jahren zwischen 972 und 983 [false]. Doch wurde auch erwogen, ob die cluniazensische Geschichtsschreibung diesen Zusammenhang nicht konstruiert habe. Auch wurden die Sarazenen nicht physisch vernichtet, wenn auch viele der Besiegten getötet und versklavt wurden. Die Konvertiten durften bleiben. […] Ein sarazenisches Wrack, das man im Seegebiet vor Cannes gefunden hat, ist eines der wenigen materiellen Relikte der berberischen Seeräuberei“ [wiki: Fraxinetum].

972 kidnappten Sarazenen Abt und Mönche von Cluny am Großen St. Bernhard und erpressten ein Lösegeld von 1.000 Pfund Silber, das die Klosterinsassen erstaunlicherweise selbst aufbrachten [Wollasch, 75 f.]. Auffällig arm sind dagegen die damaligen Schriftquellen für Cluny. Im nächsten Jahr besiegte Graf Wilhelm I. von der Provence die Sarazenen in der Schlacht von Tourtour. Vielleicht hat sich Michael Ende [1961] etwas dabei gedacht, als er in einer seiner Geschichten einem Scheinriesen den Namen Tur Tur gab: „Je weiter man sich von ihm entfernt, umso größer erscheint er.“

Unter Umständen sind das alles Parallelmythen zu Muhammad ibn Abi Amir, genannt Almansor, der das Kalifat von Córdoba bis zu den Nordgrenzen des heutigen Spaniens und darüber hinaus ausweiten wollte, doch nach 52 siegreichen Feldzügen bis Santiago de Compostela, Pamplona und Barcelona 1002 starb [wiki: Almansor; vgl. Illig 1999, 104 f.]. Christliche Geschichtsschreibung ließ ihn bei der erfundenen Schlacht von Calatañazor sterben [wiki: Schlacht bei Calatañazor]; der Ort zwischen Valladolid und Saragossa hat heute 51 Einwohner.

Zumindest eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Hätte Karl d. Gr. am oder auf dem Mont Cenis Sarazenen, Mauren oder Berber angetroffen, so hätte er sie mit Feuer und Schwert vernichtet …

Literatur

Althoff, Gerd (2006): Heinrich IV.; WBG, Darmstadt

Ende, Michael (1961): Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer; Thienemann, Stuttgart

Fried, Johannes (2012): Canossa ˑ Entlarvung einer Legende ˑ Eine Streitschrift; Akademie, Berlin

Illig, Heribert (11999): Wer hat an der Uhr gedreht? Econ, Düsseldorf (heute Ullstein, Berlin, 72009)

(11996): Das erfundene Mittelalter; Econ, Düsseldorf (heute Ullstein, Berlin, 232019)

la-garde = https://la-garde-freinet-tourisme.fr/de/die-festung-fort-freinet/

Orlop, Nikolaus (²2006): Alle Herrscher Bayerns Herzöge, Kurfürsten, Könige – von Garibald I. bis Ludwig III.; Langen Müller, München

Schrott, Ludwig (²1967): Die Herrscher Bayerns. Vom ersten Herzog bis zum letzten König; Süddeutscher Vlg, München

Spindler, Max (²1981): Handbuch der bayerischen Geschichte ˑ Band I ˑ Das alte Bayern; Beck, München

wiki = https://de.wikipedia.org/wiki/Artikel

Wollasch, Joachim (1996): Cluny ˑ Licht der Welt ˑ Aufstieg und Niedergang der klösterlichen Gemeinschaft; Artemis Winkler, Zürich ˑ Düsseldorf

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