21. 11. 1943, Gdynia/Gdingen – 16. 02. 2023, Gdansk/Danzig
Wer fühlt sich berufen, all jene Forschungsgebiete zu würdigen, die Gunnar Heinsohn in jahrzehntelanger Arbeit bearbeitet und zu neuen Fragestellungen wie Antworten geführt hat? Der ihm gewidmete Wikipedia-Artikel gibt eine Vorstellung davon, wofür er zahllose Beiträge geliefert hat, ob zu wirtschaftlichen oder demographischen oder kinderpädagogischen oder verteidigungstheoretischen oder zu ganz anderen Problemkreisen. Er hatte den Mut, seine Gedanken zu äußern und der Kritik auszusetzen.
Ich darf hier an seine dominante Stellung in der deutschen Chronologiekritik erinnern, da ich sie miterleben konnte. Es begann 1981 mit einer Präsentation in Hannovers Club Voltaire. Versammelt waren neben interessierten Laien auch ein Dutzend Wissenschaftler. Der Veranstalter Christoph Marx war bereits in seiner Einleitung überfordert, ein Wortführer des Mainstreams wollte die Regie übernehmen, da stand ein mir damals unbekannter Professor auf und wusste auf viele Fragen kluge Antworten. Damals lernte ich Gunnar kennen, damals wurde bereits über die Gründung eines Vereins nachgedacht, der dann 1982 in Münster gegründet wurde: Die „Gesellschaft zur Rekonstruktion der Menschheits- und Naturgeschichte e.V. (GRMNG)“. Selbstverständlich wurde Gunnar zum Vorsitzenden gewählt. Im Grunde dachte er an Freuds Mittwochsgesellschaft, doch diesem Anspruch konnten wir schon aus Distanzgründen nicht entsprechen. So wurde der Verein 1988 wieder aufgelöst.
In diesem Jahr ermöglichte der Frankfurter Eichborn Verlag die Edition von einem halben Dutzend chronologiekritischer Arbeiten, von denen Gunnar drei verfasste: „Die Sumerer gab es nicht“ (1988), „Was ist Antisemitismus?“ (1988) und „Wann lebten die Pharaonen?“ (1990, mit mir). Von Immanuel Velikovsky animiert, aber weit über ihn hinausgreifend legten wir die Axt an die Zeitachse ab der Vorzeit und kamen – die Abstimmung lief während seiner Sumer- und meiner Vorzeit-Arbeit – auf ein Streichintervall von rund 2.000 Jahren, das er besonders gut in Mesopotamien absichern konnte. Im Jahr 1989 gründete ich dann die Zeitschrift, die ab 1995 unter dem Namen „Zeitensprünge“ bekannter wurde; Gunnar war als Spiritus Rector und selbstverständlich als „contributing editor“ dabei.
Sein Sumer-Buch beunruhigte die Wissenschaftler. Barthel Hrouda vom zuständigen Münchner Lehrstuhl lud Gunnar zu einem Hauptseminar erst ein, dann aus, dann wieder ein und ließ harsche Kritik erwarten. Gunnar sagte schließlich ab, und ich ging als stiller Zuhörer in dieses Seminar. Erwartungsgemäß ließ Referent C. Blaha kein gutes Haar am Sumer-Buch, die hitzige Diskussion darüber erreichte rasch Stammtischniveau. Damit ist, abgesehen von einer schriftlichen Rezension, die Rezeptionsgeschichte für dieses ebenso grundstürzende wie grundlegende Werk bereits umrissen.
Das Pharaonenbuch wurde noch schlechter aufgenommen. In München verweigerte Lehrstuhlinhaber Winfried Barta dem Buch die Aufstellung in der Präsenzbibliothek und sogar die Karteikarte. Im ‚Giftschrank‘ vor Studenten ‚geschützt‘, durfte das Buch keine Wirkung erzielen.
1991 standen die Vorzeichen günstiger. Damals fand in Turin der Weltkongress der Ägyptologie statt, und Gunnars Bewerbung für ein Referat wurde stattgegeben. Erwartungsfroh reisten auch einige ‚Zeitenspringer‘ an. Es war bemerkenswert: Obwohl gleichzeitig zu Gunnars Referat fünf weitere parallel liefen, versammelte sich fast ein Drittel aller Kongressteilnehmer bei Gunnar. Er sprach über die rätselhaften Hyksos, die er mit den Alt-Akkadern gleichsetzte und so ein Verbindungsglied hin zu mesopotamischen Königslisten und israelitischen Berichten erzeugte. Doch es kam zu keiner Diskussion, die Ägyptologen schwiegen auch in Turin. So zeigten sie, dass sie eine Umdatierung des Mittleren Reichs um drei Jahre, von W. Barta vorgeschlagen, für möglich hielten, aber ganze Jahrtausende als Streichzeiten für völlig undenkbar.
Im selben Jahr 1991 brachte ich in den „Zeitensprüngen“ die ersten Aufsätze zum über rund 300 Jahre erfundenen Mittelalter, eine scheinbar abstruse Idee. Gunnar schrieb noch im selben Jahr einen unterstützenden Artikel, so dass beide Herausgeber auch hier an einem Strang zogen. Das blieb so für 20 Jahre, insbesondere während den bösartigen Angriffen von Seiten besitzwahrender Mediävisten. Dann veröffentlichte Gunnar den ersten Aufsatz über ein viel längeres Streichintervall, das er zunächst mit 600, später sogar mit rund 700 Jahren im ersten Jahrtausend n. Chr. ansetzte. In der Diskussion gerieten wir beiden Herausgeber in Streit, die 30-jährige Kooperation endigte jäh, durchaus zu meinem Bedauern. Insofern kann ich nichts mehr über sein letztes Lebensjahrzehnt berichten. Aber ich kann bekräftigen, dass er als unermüdlicher Arbeiter immer neue Themen aufgriff, vom Alter des ersten Menschen bis hin zu tagespolitischen Fragen. Dabei blieb er der „parallelen Rätselkumulation“ verpflichtet: Das Zusammenführen mehrerer Rätsel auf verschiedenen Gebieten kann zu einer gemeinsamen Lösung führen. Trotz dieser weitumgreifenden Sicht war er stets präsent und ständig bereit, eine durchdachte Antwort detailliert und ohne Polemik vorzutragen.
Wer wird ihn vermissen, abgesehen natürlich von seinen Freunden und Anhängern? Ihm war es nicht vergönnt, Wissenschaftler dahin zu bringen, die Grundlagen ihrer Fachgebiete kritisch in Frage zu stellen. Sie blockten stattdessen ab: bei Vernichtung der weisen Frauen, bei allen chronologiekritischen Fragen, bei „Erfindung der Götter“, beim „Lexikon der Völkermorde“, bei „Warum Auschwitz?“; immerhin wurde seine Erklärung zu Privateigentum, Zins- und Geldentstehung an einigen Akademien diskutiert, ebenso seine „Youth-bulge-Erklärung“, die leider von Putin entkräftet wird. Er sollte als radikaler Vordenker in Erinnerung bleiben, dem wenigstens posthum das Aufgreifen seiner Ideen zuteilwerden sollte.
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