von Heribert Illig
Abstract: Die Handschriften seit der Spätantike geben durchaus Hinweise auf ihre Datierung, die von dem zugeschriebenen Alter erheblich abweichen können. Als Beispiel dient hier der Stuttgarter Psalter.
So wie bei Kruzifixen um und kurz nach 1200 der Korpus nicht mehr mit vier, sondern nur noch mit drei Nägeln am Kreuz befestigt wird, so zeigen sich auch bei den handschriftlichen Illustrationen solche relativ raschen Übergänge. Auffällig ist etwa bei den drei Weisen aus dem Morgenland der Wechsel von den phrygischen Mützen der drei Magier hin zu den Kronen echter Könige, die damit der uns heute vertrauten Verehrung der hll. Drei Könige entsprechen. Oder: Die Einführung des Steigbügels stellt ein Problem dar. Sie werden in Byzanz den östlichen Reitervölkern abgeschaut und dort noch vor 600 in die Heeresordnung aufgenommen. Der Archäologe findet sie im deutschen Osten ebenfalls um 600. Doch dann zerfasert die Entwicklungslinie: Bei den Karolingern werden kaum mehr Steigbügel gefunden; in ihren Handschriften gibt es Darstellungen ohne und dann mit Steigbügeln, obwohl ihre Einführung schon 200 Jahre zurückliegen sollte. Aber unter den Ottonen werden die Steigbügel erneut vergessen und gegen 980 neu erfunden [vgl. Illig 1999, 422 f.].
Mit Hilfe vieler derartiger Indizien wurden die Thesen vom erfundenen Mittelalter aufgestellt, die von einer erfundenen Zeit zwischen 614 und 911 ausgehen [Illig 1996]. Dementsprechend müssen dann die vergleichsweise wenigen sog. Karolingerfunde anderen Zeiten zugeordnet werden. Hier kann der Stuttgarter Psalter als gutes Beispiel dienen. Er wird meist einem einzigen karolingischen Jahrzehnt zugewiesen, weshalb es lehrreich ist, seine Bebilderung eingehend zu untersuchen. Zunächst der aktuelle Befund:
„Der Stuttgarter Psalter (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Bibl. fol. 23) ist eine zwischen 820 und 830 in der Abtei Saint-Germain-des-Prés nahe Paris entstandene karolingische Bilderhandschrift. Das 168 Blätter (26,5 × 17,5 cm) lange Werk enthält die 150 Psalmen in schöner, gleichmäßiger karolingischer Minuskel. Unterbrochen werden diese von 316 farbigen Miniaturen. Diese Miniaturen illustrieren jeweils die Verse, zwischen denen sie stehen, und stellen meist deren theologische Deutung dar. Die sehr farbenfrohe und sorgsame Ausschmückung ist der Bildungsreform Karls des Großen zu verdanken. Trotz der ausdrucksstarken Illustrationen stand die Textüberlieferung bei der Herstellung im Vordergrund. Das Gebetbuch gehört heute mit zu den besten Vulgatafassungen“ [wiki: Stuttgarter Psalter].
Die Württembergische Landesbibliothek hat als Eigentümerin den Psalter vollständig ins Internet gestellt [wlb].
Auf den zweiten Blick ist die Datierung etwas weniger präzise. Die Eigentümerin dieser Zimelie spricht in ihrer bibliographischen Info für „Cod. bibl.fol.23“ lediglich von „1. Hälfte 9. Jahrh.“ [wlb]. Das erweitert den fraglichen Zeitraum auf ein halbes, aber ausschließlich karolingisches Jahrhundert.
Bartloser Christus und fünf Kreuzigungen
Das erste Kreuzigungsbild tritt gleich auf der ersten Seite für den ersten Psalm auf [fol 2r]. Christus wird weder traurig noch sterbend oder gar tot gezeigt. Er hat die Augen geöffnet und blickt in ruhiger Souveränität; seine Arme sind ausgebreitet. Vom senkrechten Kreuzesholz ist wenig zu sehen; der Titulusbereich ist durch den Nimbus verdeckt und – das ist eigenwillig – seine Füße sind mit den Nägeln nicht ans Kreuzesholz genagelt, sondern stehen auf dem Boden von Golgota. Christus ist hier bartlos dargestellt, ein wichtiges Datierungsindiz. Zuletzt [Illig 2018c, 433 f.] ließ sich zeigen, dass in der Spätantike ein lebender Christus mit geöffneten Augen dargestellt wurde, der ab dem späten 10. Jh. trauriger respektive müder wirkt, um ab dem 11. Jh. dann als Sterbender, schließlich als Toter und – nach 1200 – als grausam zum Tode Gemarteter dargestellt zu werden (zeitparallel gibt es eine Entwicklung des bekleideten ‚Himmelsköngs‘). Diese weitgreifende Entwicklung wurde bislang verdeckt, indem man das Kölner Gero-Kreuz auf 970 vordatierte und mit seinem toten Heiland an den Anfang aller Großkreuze rückte [vgl. Illig 2018c, 434 f., 441 f., 455].
Der Heiland wird im Stuttgarter Psalter auf vielen weiteren Bildern dargestellt: mal ohne [fol. 8v], mal mit Bart [etwa fol. 8r, 9r] ‒ demnach kann die Darstellung sogar auf einem und demselben Blatt oder auf zwei gegenüberstehenden Seiten wechseln. Dem bärtigen Christus begegnen wir erst unter den Ottonen, vereinzelt ab 980, ab ca. 1010 dann permanent [vgl. Illig 2018, 430 f.]. Wenn man bemerkt, wie schlecht gesichert viele der öffentlich genannten Datierungen sind, lässt sich allerdings das prüfende Misstrauen nicht auf die Zeit des erfundenen Mittelalters begrenzen.
Im Psalter folgen die Kreuzigungsdarstellungen zwei bis fünf, alle mit bärtigem Christus: die zweite ebenfalls mit geöffneten Augen, doch die Füße ans Kreuzesholz genagelt [fol 25v]. Bei der dritten [fol. 27r] eilen erstaunlicherweise Löwe und Einhorn zum Kreuz, Christus verliert bereits Blut aus der Lanzenwunde; die römischen Soldaten sind teils erstaunt, teils raffgierig dabei, sein Gewand zu zerteilen. Bei der vierten Kreuzigung [fol. 80v] – erkennbar an dem zugereichten Essigschwamm ‒ verläuft eine Haarsträhne auf der Schulter des Heilands mit geöffneten Augen, fällt aber nicht über die Schulter herab, wie das ab ca. 1050 gebräuchlich wird. Schließlich [fol 102v] wird bei der fünften Kreuzigung der Heiland erneut mit offenen Augen und Bart dargestellt und ein Dämon dazugesellt.
Ein bärtiger Christus ist auf Abbildungen nicht vor 980 zu erwarten. Dieser Befund engt den Datierungszeitraum des Psalters deutlich, auf 980 bis 1010 ein. Weitere Hinweise treten hinzu.
Steigbügel
Wir finden im Stuttgarter Psalter zahlreiche Reiterdarstellungen – durchwegs ohne Steigbügel [fol. 3v (hier außerdem phrygische Mützen), 14v, 19r, 21v, 41r, 59r, 71v, 72r etc.]. Das wirft ein Schlaglicht auf die in sich widersprüchliche Entwicklung dieser Reithilfe.
Bereits um 600 sind Steigbügel im sächsischen Raum archäologisch nachgewiesen [Stiegemann/Wemhoff, I: 252 f. mit Abb.].
Im späteren 7. Jh. tritt der Steigbügel nur selten archäologisch, in Handschriften gar nicht auf.
Im 8. Jh. werden vielfach Steigbügel gemutmaßt. Denn Panzerreiter scheinen sie nötig gehabt zu haben. Dieser Interpretation wird von reenactment-Akteuren widersprochen, die auch ohne Steigbügel reiten können. Insbesondere Marcus Junkelmann [II: 130] betont den hinreichend guten Sitz auch ohne Steigbügel. Die Panzerreiter von Karl Martell sind allerdings nur literarisch erwähnt, nicht archäologisch bestätigt. Man sollte in diesem Zusammenhang berücksichtigen, dass Panzerreiter wiederholt erfunden und eingesetzt worden sein sollen. So gab es sie im 6. Jh., dann neuerlich unter Karl Martell (732), dann neuerlich nach 800, dann neuerlich bei Herzog Arnulf von Baiern (gest. 937) und schließlich gegen 1050 [vgl. Illig 1996, 115 f.]. In der epochalen Karls-und-Leo-Ausstellung von Paderborn (1999) konnte nur ein einziges karolingerzeitliches Steigbügelpaar gezeigt werden, das der 2. Hälfte des 8. Jh. zugewiesen worden ist [Stiegemann/Wemhoff, I:300 f.].
Wenn man in karolingischen Gräbern Steigbügel als Beigabe vermisst, tröstet sich der Ausgräber damit, dass ab spätestens 739 die Bestattungen nach christlichem Ritus und folglich beigabenlos erfolgt seien. Das wird aus der durch den hl. Bonifaz gestifteten Bistumsordnung für Bayern abgeleitet. Im Grunde wird eine Christianisierung unterstellt, die idealerweise von einem Jahr zum anderen im ganzen Land erfolgte, obwohl sie langsam von West nach Ost erfolgt ist und dort erst im 10. Jh. ankommt.
In Handschriften des frühen 9. Jh. werden Reiter ohne Steigbügel gezeigt. So geschehen im Utrecht-Psalter oder im Stuttgarter Psalter.
Im späteren 9. Jh. finden sich Abbildungen von Reitern mit Steigbügel. Bekanntestes Beispiel sind vielleicht die Reiter aus dem Goldenen Psalter von St. Gallen [S. 140]. Sie sind durchwegs mit Steigbügeln ausgerüstet.
Im frühen 10. Jh. scheinen Reiter nur ohne Steigbügel gemalt worden zu sein.
Im späteren 10. Jh. wird dann die Ausrüstung mit Steigbügel zur Selbstverständlichkeit. Dieser Zeitpunkt ist archäologisch nicht klar fixierbar.
Zugehörige Illustrationen
Diese in sich widersprüchliche Abfolge kann bei einem so nützlichen und gleichzeitig so einfach abzuschauenden und kopierbaren Requisit nicht der Realität entsprechen. Es folgen zunächst zugehörige Illustrationen:
Nach Mitte des 9. Jh. werden Abbildungen datiert, die Steigbügel zeigen. Sie sind nicht nur an dem schmalen Steg am Fuß zu erkennen, sondern auch an der geänderten Reithaltung, bei der nicht mehr der Pferderumpf mit den Beinen umklammert wird und deshalb die Fußspitzen nach hinten zeigen, sondern das Bein nach vorne gestreckt wird, um den optimalen Halt zu gewährleisten. Der Goldene Psalter von St. Gallen (auch Zürcher Psalter genannt) [p. 140] zeigt alle Reiter mit Steigbügeln ausgerüstet, aber in zwei verschiedenen Haltungen: die alte, bei der sich die Reiter mit den Beinen an den Pferderumpf klammern, und die neue, bei der die Reiter mit nach vorne gestrecktem Bein im Steigbügel stehen. (Vergleiche ermöglicht auch der Teppich von Bayeux, der zwischen 1066 und 1082 gestickt worden sein dürfte [wiki: Teppich von Bayeux].
Der Leidener Makkabäer-Codex, ursprünglich bei 925 gesehen, zeigt auf einer Seite [15v] eine Reiterschlacht. Beide Seiten tragen dieselben Helme, Schilder, Lanzen und Kettenhemden. Zu sehen sind mindestens acht Beine, doch keines fußt in einem Steigbügel. Hier ist also der Steigbügel scheinbar wieder vergessen.
Es gibt allerdings im selben Codex eine andere Seite, auf der eine weitere Reiterschlacht dargestellt ist, bei der eine Partei über einen kleinen Fluss angreift. Hier zeigt der vorderste Angreifer einen Fuß im Steigbügel, während die Unterliegenden keine Steigbügel benutzen. Das allgemein bei 925 gesehene Bild wird jedoch von Hartmut Hoffmann [1986, 97] „ins dritte Viertel des 10. Jahrhunderts“ datiert [Wittekind, 50], bezogen auf das fertig gestellte Manuskript. Das wird von den Fachkollegen nur bedingt geteilt, da sie die Kolorierung der Handschrift bis zu 50 Jahre nach ihrer Fertigung ansetzen möchten. Denn sie sehen zugleich etwas anderes:
„Die Wahl der Texte, ihre auf den ersten Blick merkwürdige Kombination, sowie die Illustration der Leidener Makkabäer-Vegetius-Handschrift sprechen für eine bewußte Aufnahme und schöpferische Umformung einer karolingischen ‚Haustradition‘“ [Wittekind, 71].
Diesen Wissenschaftlern geht es um die Nähe zur Karolingerzeit, insbesondere zum Stuttgarter Psalter. Würden sie seine Erstellung bei 1000 akzeptieren, ergäbe sich Hoffmanns Datierung ins 3. Drittel des 10. Jh. wie von selbst.
Die Einführung des so nützlichen und gleichzeitig so einfach herzustellenden Steigbügels kann niemals vergessen worden sein. Deshalb müssen Reiter ohne Steigbügel nach den archäologischen Funden aus der Zeit um 600 aus dem 9. und vor allem aus dem frühen 10. Jh. als anachronistisch bzw. falsch datiert eingestuft werden. Nun erst kommt es zur Deckung mit dem archäologischen Befund.
Das zielt auch auf den Utrecht Psalter, eines der Hauptwerke karolingischer Kunst, das bei herkömmlicher Datierung überdehnt werden muss:
5. Jh. Vorbild in der Antike [Hölländer 1991, 81]
835 Utrecht-Psalter
Im frühen 11. Jh. die erste von drei Kopien in England [vgl. Illig 1996, 308].
Im Utrecht-Psalter werden Reiter ohne Steigbügel abgebildet [etwa zu Psalm 42 = 25r oder Psalm 53 = 30v oder Psalm 81], die ungefähr bis zum Jahr 970 möglich erscheinen. Die überaus ähnliche englische Kopie folgt bei dieser Einstufung bald danach; zugleich beträgt der Abstand zum antiken Vorbild nicht 335 (oder mehr) Jahre, sondern nur noch 200 (oder mehr) Jahre.
Für Psalm 115 [67r] wird eine Kreuzigung gezeigt: Christus ist bartlos, sein Blut wird in einem Kelch aufgefangen. Die Bartlosigkeit begrenzt die Herstellungszeit auf vor 1010.
Kronen
Zurück zum Stuttgarter Psalter. Kronen sind ein weiteres Indiz. Wir finden gekrönte Häupter auf zahlreichen Seiten [fol. 3r, 32v, 33v, 36r, 49r, 57v etc.]. Das wäre noch nicht auffällig.
Auffällig ist hingegen die Darstellung der Heiligen Drei Könige, die hier [fol. 84r] mit phrygischen Mützen gezeigt werden.
Andernorts konnte gezeigt werden, dass diese Art nicht nur in der Spätantike, sondern bis in die Zeit um 1000 gängig war, in einem Einzelfall (Fresko in Sant’Urbano bei Rom) noch um 1011 auftrat [Kehrer, 68; vgl. Illig 2014, 410 f.]. Damals hielt man sich an die drei Magier bzw. an die drei Weisen, wie sie im Evangelium genannt werden [Psalm 72,10]. Wenn dieses alte Attribut noch anstelle von Kronen eingesetzt wird, lässt das für den Psalter zeitlichen Spielraum bis ca. 1000.
Nachdem es keine jahrgenauen Wechsel in der künstlerischen Gestaltung gibt, bringen diese drei Merkmale den Psalter in den Zeitraum um 1000. Das entspricht dem Vorschlag von 1996: Buchmalerei von bislang 815 bis 875 rückt aus den erfundenen Jahrhunderten heraus und in die Zeit von 1010‒1050 [Illig 1996, 314]. Das neue Intervall scheint etwas zu spät angegeben zu sein. Aber es gibt keine gesicherte Datierung für diesen Psalter. Es war Bernhard Bischoff, der vor 1970 den Psalter auf 820 datierte. Nachdem Bischoff als Spezialist mit unfehlbarem eidetischem Gedächtnis galt, wurden seine Datierungen akzeptiert [ipfs], auch wenn sie nicht immer nachvollzogen werden konnten [vgl. Illig 2007, 174].
Tiefenperspektive
Und noch eine Darstellungsform wird erhellt: die Versuche, in der Buchmalerei Tiefenperspektive zu erzeugen, damals noch ohne Zentralperspektive. Dementsprechend fallen die Versuche mal schlechter, mal besser aus. Im Falle des Stuttgarter Psalters ist es so, dass er zwar perspektivische Wirkung sucht, aber nur schlechte Resultate erzielt.
Das beginnt bereits auf den ersten Seiten des Codex [fol. 5v]. Im Weiteren reißen die Versuche mit perspektivischen Darstellungen nicht ab, ergeben jedoch fast durchwegs nur eine stürzende Kirchenarchitektur [etwa fol. 16v, 35r]. Da gibt es innerhalb der ottonischen wie bei der sog. karolingischen Malerei deutlich bessere Versuche.
Ganz unzureichend ist auch die Darstellung eines Buches auf seinem Ständer [fol. 40r], oder ein senkrecht gestelltes, offenes Buch [fol. 47v, 51v, 90r].
Doch es gibt im Psalter auch Gegenbeispiele [etwa fol.103v]: Hier sind Thron und Fußschemel sogar zentralperspektivisch bewältigt, nicht aber eine zusätzliche kleine Fußmatte! Derartige Unstimmigkeiten sind für ottonische Handschriften typisch.
Bewaffnung
Der in karolingische Zeit datierte Psalter bringt für Geschichte wie für Kunstgeschichte Konsequenzen. Denn er stellt im Rahmen der vorgegebenen Psalmen auch das Alltagsleben seiner Entstehungszeit dar. Dazu gehört beispielsweise das häufig getragene Kettenhemd [etwa fol. 12v, 21r, 107v oder 158v], das daraufhin den Karolingern zugeschrieben worden ist, aber von den Archäologen bislang ebenso wenig bestätigt werden konnte wie Helme aus dieser Zeit.
Dank derartiger Darstellungen sahen sich jedoch die Historiker berechtigt, den Karolinger eine ganze Reihe von Merkmalen zuzuschreiben, die dem Archäologen fremd geblieben sind. So wird z.B. im Internet als reenactment-Requisit „ein ovaler Spangenhelm nach dem Stuttgarter Psalter“ angeboten [outfit], den es in der archäologischen Realität nicht gibt. Er wird im Psalter verschiedentlich gezeigt [fol. 10r, 15r, 19r, 21v oder 137v].
Ein eigenes Kapitel bilden die Schwerter. Hier gibt es sowohl Exemplare mit Damaszierung wie mit einem Schriftzug auf der Klinge, einmal klar erkennbar [fol. 74r], sonst immer fraglich [fol. 5r, 122r, 109v, 94v]. Beides wird deshalb bereits den Karolingern zugeschrieben. Nur deshalb wird etwa die Dauer der Schmiedetechnik eines Ulfberht-Schwerts hoffnungslos überdehnt und von einer Schmiedewerkstatt gesprochen, die viele Generationen lang tätig war [Illig 2015, 180]. Der hier untersuchte Psalter ist jedoch hierfür kein belastbares Zeugnis.
Nur als Darstellungsdetail: David tötet Goliath mit dessen eigenem Schwert, was dadurch gezeigt wird, dass das Schwert zum Teil noch in der Scheide steckt [fol. 158v; 165r].
Die Lanzen von Reitern und Fußvolk haben immer lange Stichblätter [etwa fol. 14v]. Da archäologisch auch karolingische Lanzenspitzen Mangelware sind, orientierte man sich an diesen Darstellungen, weshalb auch die künstlich verlängerte Spitze der hl. Lanze zu einer karolingischen erklärt worden ist, obwohl es sich um eine davor anzusetzende langobardische Spitze handelt [vgl. Illig 2018a, 98].
Nebenbei: Die im Psalter häufigen Darstellungen von Tötungen mit kullernden Köpfen und spritzendem Blut sind einigermaßen grausam [insbesondere fol. 150v].
Sonstiges
Zu den Alltagsgegenständen gehört der Pflug mit Streichbrett [fol. 124r], der zur karolingischen Agrarrevolution gerechnet wird.
Die karolingische Kleidermode wird ebenfalls über den Stuttgarter Psalter bestimmt. Da wird im Reallexikon der germanischen Altertumskunde unter Bezug auf ihn für Frauen die enge, fußlange Tunika [fol. 57v.], für Männer sowohl die normale Tunika [fol. 57v] wie die mit gewickelten Schößen erwähnt [fol. 58r.; fol 23r], dazu Untertuniken [fol. 23r, fol. 65v.] und Beinschienen [fol. 9r; 15] oder Stiefel mit geschmücktem Schaftabschluss [fol. 72r; bis hier alles RgA 16: 614 f., Stichwort „Kleidung“ von M. Müller]. Die Frage ist, ob hier zeitgenössische Kleidung (also aus der Zeit um 1000) gezeigt wird oder ältere, die aus spätantiken Codizes übernommen worden ist, oder Mischformen, die sich teils auf Christi historisches Sterben, teils auf aktuelles Geschehen beziehen.
Resümee
Der Stuttgarter Psalter ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie frühmittelalterliche Datierungen durcheinandergehen. Durch Abgleich mit anderen Codices, archäologischen Befunden und Artefakten konnte gezeigt werden, dass die Handschrift von der Zeit um 825 in die Zeit um 1000 gerückt werden muss. Sie ist weder eine Illustration aus noch für karolingische Zeiten, kann also nicht mehr herangezogen werden, um die Karolingerzeit auszuschmücken. So verliert diese Zeit eine ihrer wesentlichen Stützen, bestätigt damit das erfundene Mittelalter und das Ineinandergreifen ganz unterschiedlich hergeleiteter Argumente.
Literatur und andere Medien
Bildquelle für Stuttgarter Psalter: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart
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Hoffmann, Hartmut (1986): Buchkunst und Königtum im ottonisch-früh#salischen Reich; Stuttgart
Illig, Heribert (2018c): Kreuz und Kruzifix · Eine sinnstiftende Betrachtung; Zeitensprünge 30 (3) 426-467
– (2018b): Die Heilige Lanze – der Imaginärteil aus dem 20. Jahrhundert; Zeitensprünge 30 (1) 109-110
– (2018a): Die Heilige Lanze – ohne Okkultismus · Herrschersymbol der Langobarden; Zeitensprünge 30 (1) 94-108
– (2015): Ulfberht bei den Wikingern · Von Schwertfegern und -schwingern; Zeitensprünge 27 (1) 170-184
– (2014): Mithras mit der phrygischen Mütze · Drei Betrachtungen; Zeitensprünge 26 (2) 407-427
– (2007): Karolingische Komputistik? Zu Beda und Borst, Bischoff, Theophanes und Isidor; Zeitensprünge 19 (1) 156
– (1999): Paderborns prachtvolle Phantomzeit · Ein Rundgang; Zeiten#sprünge 11 (3) 403-422
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ipfs = https://ipfs.io/ipfs/QmXoypizjW3WknFiJnKLwHCnL72vedxjQkDDP1mXWo6uco/wiki/Stuttgart_Psalter.html
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Kittell-Queller, Emily: Attribution-NonCommercial 3.0 Unported (CC BY-NC 3.0)
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wiki = https://de.wikipedia.org/wiki/Artikel
Willison, Kjarni (2011): Tunika „Stuttgarter Psalter“; Kjarni-willison.de/tunika-stuttgarter-psalter wlb = http://digital.wlb-stuttgart.de/sammlungen/sammlungsliste/werksansicht/?no_cache=1&tx_dlf%5Bid%5D=1343&tx_dlf%5Bpage%5D=1
Zwittmeier, Markus (2014): Kritische Betrachtung karolingischer Helme anhand illuminierter Handschriften; aktualisiert 19.01. 2014 nach 28.01.2013 http://www.tribur.de/blog/2013/01/28/kritische-betrachtung-karolingischer-helme-anhand-illuminierter-handschriften/
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