von Heribert Illig
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Es fällt auf, dass wissenschaftliche Autoren, die sich unter anderem mit Karl und den Karolingern befassen, unmittelbar vergessen können oder müssen, was sie gerade geschrieben haben. Das fällt bei der Entwicklung der abendländischen Bibliothek – was ihre Räume wie ihre Bestände betrifft – ebenso auf wie bei der Gewölbe-Evolution in Europa.
Abendländische Bibliotheken
In einem eigenen Buch hat der Verfasser des Kaisers leeres Bücherbrett festgestellt. Dieser Buchtitel verwies auf das Problem, dass mittelalterliche Bibliotheksräume sehr, sehr rar sind, egal ob erhalten oder wenigstens im Grundriss festgehalten (um von ihren Beständen ohnehin zu schweigen). Der Entwicklungsgang der klösterlichen Bibliotheken wäre dann klar, wenn es nicht den Idealplan von St. Gallen gäbe, der in die Zeit um 830 datiert wird. Er zeigt ein komplettes Kloster, direkt neben dem Chor der Kirche ein Skriptorium und darüber eine Bibliothek. Wer den Plan und den Werdegang der Bibliothek in seiner bislang vertretenen Form für richtig hält, gerät in massive Widersprüche. Ich habe daraus den Schluss gezogen, dass der Idealplan ins 12. Jh. gehört, womit die ohnehin unhaltbare karolingische Zeit eine weitere wichtige kulturelle Stütze verliert, mit den fehlenden Bibliotheken dieser Zeit die zweite, ebenso wichtige. Wie geht ein opulentes Werk über Bibliotheken mit diesem Dilemma um?
James Campbell [= C., 2013] stellt eingangs fest, dass sich die „älteste mit ihren Beständen und in ihrer Originalform erhaltene Bibliothek des Westens″ in Cesena unweit Riminis befindet, erbaut von 1447 bis 1452 [C. 74]. Da selbst sie aus der Renaissance stammt, bleibt die Frage nach mittelalterlichen Bibliotheken offen. Bereits die Abschnittsüberschrift lässt Wesentliches anklingen: „Bibliotheken des Mittelalters – ein Mythos″ [C. 74].
Campbell beginnt mit der sagenhaften Bibliothek aus Umberto Ecos bestem Roman Der Name der Rose, der zwar grundgescheit ist, aber mit dem klösterlichen Bücherturm aus dem Hochmittelalter ein Phantasieland macht. Stimmt es, dass diese fiktive Bibliothek „lose auf dem Klosterplan von St. Gallen basiert″? [C. 78] Diese Feststellung ist falsch, aber Campbell wendet sich deshalb diesem Plan zu, um daraufhin zu einem desillusionierenden Urteil zu finden:
„Die auf dem Plan eingezeichnete Bibliothek ist jedoch sehr viel kleiner als jene im Roman. Zudem existiert kein Beweis dafür, dass sich in mittelalterlichen Klöstern der damaligen Zeit überhaupt Skriptorien oder Bibliotheken befanden. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Klöster besaßen nicht sehr viele Bücher″ [C. 78 f.].
Es wurde errechnet, dass Ecos Bibliothek 85.000 Bücher enthalten konnte [C. 78],
„während die bedeutendsten Klostersammlungen des Mittelalters im 12. Jahrhundert dagegen gerade einmal über etwas mehr als 1000 Bücher [verfügten], nur in Ausnahmefällen waren es mehr als 500, meist sogar weniger als 100″ [C. 79].
Diese wenigen Bücher „verwahrte man in Büchertruhen. […] Zahlreiche Inventarlisten verzeichnen solche Truhen, die bis weit ins 16. Jahrhundert in Gebrauch waren″ [C. 80]. Die bei Campbell abgebildete Bücherkiste stammt aus dem Merton College in Oxford, das sich rühmt:
„Das Bibliotheksgebäude in Mob Quadrangle, das von 1373 stammt, ist die älteste kontinuierlich in Gebrauch befindliche Bibliothek für Akademiker und Studenten der Universität in der ganzen Welt″ [Merton College].
Über dem Eingangsportal zum College zeigt ein Steinrelief, wie der bischöfliche Gründer und das hl. Lamm zu Seiten eines schweren Folianten knien, flankiert von Johannes dem Täufer, Einhorn und Löwe, schließlich sind wir in England ‒ ein anrührendes Bild, doch nicht romanisch oder gotisch, sondern aus dem 19. Jh.
Sowohl in der ersten wie in der zweiten („upper“) Bibliothek bilden Bücherregale sog. Nischen, in denen Bänke und Buchablagen vorbereitet sind. Die Bücherkiste (chest) von Merton stammt deshalb aus einer früheren Zeit, aus dem 13. oder früheren 14. Jh.
Das St. John′s College, ebenfalls in Oxford, besitzt noch eine Bücherkiste mit einer erstaunlichen Schließanlage unter dem Deckel, die mindestens sechs Fallen betätigt und so die damalige Wertschätzung von Büchern erahnen lässt, sofern es nicht in Wahrheit die Schatztruhe war.
Die nächstfolgende Alternative waren armaria, also Holzschränke, die man gerne im Kreuzgang abstellte, hier einer der wenigen erhaltenen aus der Abbaye de Aubazines (Obazine), vielleicht 13. Jh. [vgl. Illig 2017, 65].
„Zunächst also entstanden im Erdgeschoss der Klöster kleine Buchmagazine, die man über den Kreuzgang betrat. […] Räume dieser Art waren keine Bibliotheken im eigentlichen Sinn. Sie waren klein, fensterlos und dienten ausschließlich der Aufbewahrung. Allein das Heraussuchen der Bücher dürfte bei den hier herrschenden Lichtverhältnissen sehr schwierig gewesen sein. Im Wesentlichen handelte es sich um begehbare Schränke ohne besondere architektonische Eigenschaften. Die Mönche lasen weiterhin im Kreuzgang, später in ihren Zellenʺ [C. 82].
Einen speziellen Aufschwung erlebt das Bibliothekswesen, als der Dominikaner Humbertus de Romanis (1200‒1277) um 1270 befand,
„Klöster sollten über ruhige und helle Räume verfügen, in denen sich die Glaubensbrüder dem Studium der besten Bücher widmen können. Die Bücher sollten zum Schutz vor Diebstahl angekettet sein″ [C. 85].
Die anschließend von Campbell genannten Bücherräume können allerdings mit ihren Gründungsdaten nicht belegen, dass Humbertus solche Räume bereits als Realität kannte: 1289 (Sorbonne), 1355 (Pisa), 1381 (Bologna und Assisi) und folgende [C. 85]. Ihm ging es um Wissensaneignung und Ausbildung:
„Weitere wesentliche charakteristische Züge waren die klar strukturierte Bibliotheksorganisation, die dem Nutzen und der guten Lesbarkeit sich unterordnende Buchausstattung und die Bevorzugung von professionellen Schreibern anstelle der konventsinternen Kopiertätigkeit, denn die Brüder sollten sich auf das Studium als ihre wesentliche Aufgabe konzentrieren und ihre Zeit nicht mit Abschreiben verschwenden. Dies bedeutete eine klare Abkehr von der Tradition der Mönchsbibliothek″ [Kessler, 49].
Im Norden ist die Pfarrbibliothek der Walburgiskirche im holländischen Zutphen hervorzuheben, weil sich während des 14. Jh. ein kleiner Bücherraum auf der Empore der Kirche befand. Bis 1561 oder 1565 wurde dann der kirchenartige Bibliotheksraum mit erhaltener Kettenbibliothek neu gebaut; nur ihn kennen wir.
Er verdient die Anmerkung, dass der uns überkommene Bibliotheksbestand 741 Bände umfasst, von denen mindestens 150 Bände nicht zum ursprünglichen Bestand gehörten.
„In diesem Kapitel ist deutlich geworden, wie wenige Bibliotheken aus der Zeit vor 1500 erhalten sind und dass die Forschung keine weitreichenden Erkenntnisse über sie präsentieren kann. Auch wenn die Bibliothek von Zutphen aus der Zeit nach 1500 stammt, gibt sie mit recht großer Wahrscheinlichkeit eine gute Vorstellung davon, wie Bibliotheken zwischen 1300 und 1550 ausgesehen haben″ [C. 87].
Korrekt wäre die Aussage, dass die Bibliothek von Zutphen die Zeit um 1561 widerspiegelt, nicht die 250 Jahre davor. Der gesamte winzige Bibliotheks- und Bücherbefund deckt sich mit dem, was der Verfasser weit umfassender herausgearbeitet hat [Illig 2017]. Das befriedigt zwar den Verfasser, würde für sich aber das Rätsel des St. Galler Plans nicht lösen. Ein paar Seiten vorher hält Campbell fest:
„In ländlich gelegenen Klöstern waren Bücher von geringerer Bedeutung – der ideale Klosterplan von St. Gallen zeigt, dass die meisten eingezeichneten Gebäude der landwirtschaftlichen Nutzung vorbehalten waren. Die Weiterentwicklung der Bibliotheksarchitektur hat sich in städtischen Klöstern vollzogen″ [C. 82].
Hier wird es ganz abwegig: Ein Kloster im Grünen hätte einen Bibliotheksraum gehabt, wie er bis 1414, also für fast 600 Jahre ausgereicht hätte [Illig 2017, 80], wonach sich die Gelehrsamkeit von der Landwirtschaft in städtische Klöster verlagert habe. Gerade die in der Einsamkeit gebauten Zisterzienserklöster zeigen in ihren Grundrissen ab dem 12. Jh. wenigstens kleine Bibliotheksräume, während der deutlich ältere Benediktiner-Orden bis zu dieser Zeit gar nichts vorweisen kann. Für St. Gallens Pseudoplan gilt: Ein großer Bibliotheksraum mit mehr als 100 Quadratmetern steht nicht am Beginn klösterlicher Bücherliebe, denn in der Zeit um 830 hätte eine einzige Bücherkiste ausgereicht, vermutlich sogar ein Nachtkästchen, sofern es ein derartiges Möbel bereits gegeben hätte. Das lässt sich Campbells Betrachtung zwingend entnehmen ‒ doch führt das bei ihm nicht zu dem naheliegenden Gedanken, diesen Plan zur Fiktion (mit Entstehung im 12. Jh.) zu erklären. Hier ist der Architekturhistoriker Campbell nicht in der Lage gewesen, die Konsequenz seiner Befunde zu sehen, zu artikulieren und zu vertreten. Sie sind vom Verfasser gewissermaßen nachgereicht worden [Illig 2017, 157-162].
Die Gewölbe der Aachener Pfalzkapelle
Hier wird eine bereits früher angesprochene Amnesie ausführlicher dargestellt und um mehrere Verschleierungen ergänzt. Ernst Adam wurde 1952 bei Hans Jantzen über den Freiburger Münsterturm promoviert; er blieb diesem Bauwerk auch mit etlichen Publikationen treu, beschäftigte sich aber genauso mit der Kunst der Parler oder der Romanik in Baden-Württemberg, Elsass oder Spanien. Für ein Sammelwerk über „Epochen der Architektur″ schrieb er 1968 den Einleitungsband „Vorromanik und Romanik″. Er ist also kein sachfremder Autor, wenn er sich in diesem Zusammenhang auch mit der Aachener Pfalzkapelle beschäftigt hat.
Seiner Einleitung entnehmen wir, dass nach den Römern erst mit Pippins d. J. Abteikirche St-Denis „die Baukunst wieder beginnt″ [A. 6]. Das ist in jeder Chronologie selbstverständlich. Doch dass unter Karl „um 800 erstrangige [Bau-]Werke″ entstanden, beschäftigt ihn.
„Doch wird aus dem wenigen Erhaltenen und aus dem Rekonstruierbaren deutlich, daß die karolingische Kunst sich nicht langsam vorbereitete und aus dem Fränkisch-Merowingischen sich herausentwickelte, sondern unvermittelt mit einer Fülle neuer Gedanken im Norden auftritt″ [A. 6 f.].
Zur Erklärung des revolutionär ‚Unvermittelten′ müssen frühchristliche und byzantinische Einflüsse berücksichtigt werden. Bei Aachens Kuppel sind „gründliche technische Kenntnisse″ vorauszusetzen, entstand hier doch ein „durchgehend gewölbter Steinbau″ [A. 7]! Adam beobachtet zunächst die Situation nach dem Jahr 1000. Damals ist von St-Philibert, Tournus, die doppelstöckige Vorkirche, „in allen Teilen gewölbt″, im frühen 11. Jh. vollendet worden:
„Vorkirche und Fassade von Tournus wurden im späten 10. Jh. begonnen und im frühen 11. Jh. vollendet. […] In der Wölbung aller Schiffe ist die Vorkirche von Tournus das früheste erhaltene Denkmal eines gewölbten Längsbaus im nördlichen Europa. Erst einige Jahrzehnte später tritt die Wölbung auch in Großbauten auf″ [A. 75].
„Erst nach der Jahrtausendwende wagt die mittelalterliche Architektur ganze Kirchenbauten in allen Teilen zu überwölben. Bis dahin wurden Gewölbe nur in kleinen Anlagen angewandt″ [A. 76]
Für Adam gilt San Vicente in Cardona (katalanisch San Vicenç) als frühes Beispiel für einen komplett gewölbten Kirchenbau. Die gesamte Kirche ist ungefähr 50 m lang und im Vergleich mit den 134 m des Speyerer Doms noch keine wirklich große Kirche:
„Das Langhaus staffelt sich als dreischiffige Pfeilerbasilika, über dem Mittelschiff wölbt sich eine Längstonne auf Gurtbögen, über den Seitenschiffen sitzen Kreuzgratgewölbe zwischen Gurtbögen [A. 76].
Dieser frühe Bau wird auch 50 Jahre später in ähnlicher Wortwahl geschildert:
„In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts verbreitete sich der Gewölbebau in weiten Teilen Europas. In Burgund und hier [in] Nordspanien scheinen die Anfänge zu liegen. Während die Einwölbung der Abteikirche Cluny II (954–981) bei Architekturhistorikern umstritten ist, existiert in der Vorkirche (Narthex) von Saint-Philibert in Tournus die früheste in Burgund noch stehende in allen Teilen gewölbte Anlage. Vor der Jahrtausendwende gab es Gewölbe nur in kleineren Anlagen; jetzt erst – zu Beginn des 11. Jahrhunderts – wagten es die mittelalterlichen Baumeister, alle Teile (Seitenschiffe, Mittelschiff, Querhaus und Chor) auch einer größeren Kirche zu wölben″ [wiki: San Vicenç (Cardona)].
Es wird auch heute von einem Kirchenbau ab 1020 ausgegangen, geweiht 1040.
„Man wagte in den Anfängen der Wölbkunst nur kleine Fenster, um möglichst viel Mauersubstanz zu behalten. […] Die Mauern selbst bildeten die Verstrebung, außen häufig verstärkt durch rechteckige Vorlagen″ [A. 76].
Hier ließen sich Aachens maximal geöffnete Emporen erinnern, deren Größe erst mit den eingestellten Säulen akzeptabel wird.
Und dann der Dom zu Speyer: Konrad II. (König 1024-1039) ließ den mächtigen Bau um 1030 beginnen (laut Reidinger bereits 1027, doch wird diese Hypothese abgelehnt [Wiki: Speyerer Dom]). Sein Hauptschiff konnte damals noch nicht gewölbt werden, doch immerhin die Seitenschiffe. Um 1080 veranlasste Heinrich IV. (König 1053–1105) dann einen Um- und Neubau. Nun erhielt auch das Mittelschiff sein Gewölbe:
„Speyer ist der erste abendländische Bau großen Ausmaßes, bei dem Gewölbe angewandt wurden, eine Neuerung von unabsehbaren Konsequenzen. […] Aus gleichlautenden Kompartimenten, aus gleichen Wandabschnitten wie aus gleichen einzelnen Raumteilen setzt sich der gewaltige Kaiserdom zusammen. Neue Möglichkeiten sind in der straffen Vertikalgliederung erschlossen, die Mauermassen modelliert, die Glieder bestimmend ausgeprägt. Hier beginnt das Hochmittelalter, liegen die Wurzeln für die spätere Architektur bis zur Gotik″ [A. 80].
Der Leser greift sich an den Kopf: Adam weiß, dass Aachen zur Gänze gewölbt ist, bis hin zu den Emporen und den Wendeltreppen, aber nun ist für ihn Speyer II der erste abendländische Bau großen Ausmaßes mit Gewölben – also 300 Jahre später! Aber vielleicht ist Aachens Pfalzkapelle kein Bau großen Ausmaßes? Speyers Mittelschiff misst in der Höhe 33 m, doch Aachens Kuppel je nach Messung 29 bis 32 m [vgl. Illig 1996, 32] oder 30,95 m [Heckner, 43]. Die Seitenschiffe von Speyer sind 70 m lang [Winterfeld, 128]. Wenn man Aachens Umgang geradebiegen könnte, dann ergäbe sich ein Seitenschiff mit einer Länge von rund 77 m, gemessen an den Mittelgraten der Gewölbe. Hier wurde also ein ebenso großes Gewölbe bewältigt wie in Speyer, doch auf einem ungleich schwierigeren Grundriss. In Speyer genügten einfache Kreuzgratgewölbe, während der Aachener Umgang ein kompliziertes wabenförmiges Gewölbe benötigte – und auch erhielt.
Insofern hat Adam seine anfängliche Aussage für Aachen: „ein durchgehend gewölbter Steinbau″ [A. 7] bis Speyer vergessen. Das stellt sich wie eine zeitweilige Amnesie dar, auch wenn es sich hier nicht um eine medizinische Diagnose handelt.
Hans Erich Kubach [1988] hat sich dieses Problems elegant enthoben. Er bespricht die Einwölbung der Hochräume mit Kreuzgratgewölben und befindet: „Für den Basilikalbau bedeutet das eine Revolution″ [Kubach, 79]. Insofern sollte er nicht in Konflikt mit dem Aachener Zentralbau geraten, kann es aber nicht vermeiden.
„Bis gegen Mitte des 11. Jhs. gibt es Gewölbe nur mit geringen Spannweiten. Sodann treten Gewölbe über größeren Räumen auf, jedoch mit besonderen konstruktiven Sicherungen – Widerlager durch gleich hohe Gewölbe in der Hallenkirche, durch Turmbauten oder dgl. (Tonne des Speyerer Altarhauses mit 16 m Spannweite, zwischen zwei Türmen). Schließlich wagt man weitgespannte Gewölbe im Querhaus und im basilikalen Mittelschiff ohne besondere Widerlager, mit erheblichen Mauerstärken in einzelnen hervorragenden Bauten″ [ebd. 84].
Halten wir deutlich fest: Es geht ihm um die Tonne zwischen Vierungskuppel und Apsiskalotte, die es wohl erst bei Speyer II gab (s. Grundrisse). Die Vierungskuppel übergeht Kubach, wohl um nicht in Schwulitäten zu geraten. Denn sie durchmisst, entsprechend dem Hauptschiff, 13,90 m. Damit ist sie kleiner als die Kuppel von Aachen mit ihrem Durchmesser von 15,50 m [Heckner, 47]. Allerdings misst Speyers Ostkuppel 46,40 m über dem Vierungsboden (sogar 50,15 m über dem Langhausboden [Winterfeld, 57]) und erreicht damit eine neue Dimension. Aber erst jetzt, um 1100, soll Aachens Kuppel ‚zweitrangig′ geworden sein, die immerhin mit der Höhe von Speyers Hauptschiff (33 m) konkurrieren kann.
Selbst einem Altmeister wie Günther Binding widerfährt es, dass er Aachens Pfalzkapelle jäh aus den Augen verliert. So schreibt er über ottonische Architektur und ihr Emporkeimen unter den Karolingern.
„In byzantinisch beeinflußten Gebieten, wozu im Süden auch Ravenna und Süditalien gehörten, hatte man besonders mit dem Gewölbebau größere Erfahrungen, denn im Norden waren nur kleinere Räume wie Krypten und die Untergeschosse von Westwerken (Corvey 873/85) mit Kreuzgratgewölben überspannt, ansonsten waren [in Köln] die Kirchen wie der Saal von St. Pantaleon, der Dom und St. Aposteln flachgedeckt. Erst in Speyer und St. Maria im Kapitol in Köln wurden um die Mitte des 11. Jahrhunderts Seitenschiffe überwölbt, wobei das breitere Mittelschiff noch ohne Gewölbe blieb; mit dem Umbau von Speyer II (nach 1086) wurde begonnen, auch Mittelschiffe zu überwölben“ [Binding, 293].
Aber vielleicht ist das weniger verwunderlich, wenn man einen anderen Baubefund von Hanns Peter Neuheuser aus demselben Sammelwerk anfügt, der eine andere Arbeit Bindings zitiert:
„Spätestens seit dem rheinischen Kunsthistoriker-Kolloquium 1981 in Bonn wurde auch für den Zusammenhang mit der Kölner Kathedrale deutlich, daß es »kaum möglich ist, zwischen karolingischer und ottonischer Architektur zu unterscheiden«″ [Neuheuser 1981, 299].
Auch Wolfgang Kaiser [K. = 1996] wollte im Rahmen des Themas „Romanische Architektur in Deutschland“ auch die Aachener Pfalzkapelle behandeln. Wenn er den Dom zu Speyer betrachtet, dann wählt er eine aufschlussreiche Zwischenüberschrift: „Der Speyerer Kaiserdom – Vorreiter für die Wölbung in Deutschland″ [K. 46], als wäre ihm der Aachener Dom vollständig unbekannt. Er rühmt an Speyer die genauen Achsbezüge bei den
„Langhausarkaden, über denen, nun erstmals genau in Achsbezug gebracht, die Obergadenfenster sitzen. Auch die Fenster der Seitenschiffe sind auf die Achsen bezogen. Eine so konsequente Wandgliederung kannte die ottonische Baukunst noch nicht. Der Schritt, bis in den Obergaden und zu den Fenstern der Seitenschiffe Achsbezüge zu schaffen, war aber für die die zukünftige Architektur von größter Bedeutung, denn erst von diesem Moment an wurde die Einwölbung eines ganzen Schiffes möglich″ [K. 48].
Mit dieser Feststellung hat Kaiser recht, aber trifft sie nicht in gleicher Weise bereits auf Aachen zu? Nun, Kaiser sieht im Gegensatz zu Adam kein plötzliches Auftreten von Architekturideen, sondern einen evolutionären Prozess:
„Vieles wurde in dieser frühen Zeit ausprobiert, und es entwickelten sich nebeneinander mannigfache Bautypen. Gleichzeitig entstanden Basiliken mit und ohne Querhaus, Saalkirchen mit Rechteckchor, mit einer oder drei Apsiden und schließlich Zentralbauten, je nach der Funktion und dem Willen der Bauherren″ [K. 32].
In der einstigen Realität fehlen allerdings die von ihm imaginierten ‚Probierbauten′, die uns hinführen würden zur Lorscher Torhalle, zum Westwerk von Corvey oder zu Einhards Basiliken, um so mehr. Das gilt eins zu eins für die Aachener Pfalzkapelle, die ihren Vorläufer in Ravennas San Vitale finden soll, was bezüglich der Form angeht, doch nicht in Hinblick auf die Technik der Kuppelwölbung.
Während Kaiser zum Aachener Westbau und dann nach Lorsch wechselt, bleiben wir bei der Tatsache, dass bereits Aachens Pfalzkapelle durchgehend gewölbt ist. Hierüber verliert Kaiser kein Wort, im Gegenteil: Er bringt einen Grundriss der Pfalzkapelle, bei dem die Wabenstruktur des Umgangs fehlt. Und nach der Baubeschreibung der Innenwände des schachtartigen Oktogons fehlt die berühmte Kuppel. Kaiser wusste also um die Problematik, blendete sie aber aus. Hier geht es nicht um Amnesie, sondern um Blendwerk.
Kurz zuvor sind zwei Bände von Xavier Barral i Altet über „Frühes Mittelalter″ und „Romanik″ erschienen. Er vermeidet im ersten Band bei der Aachener Pfalzkapelle jeden Hinweis auf ihre ungewöhnlichen, meisterlichen Wölbungsformen [Barral 1997, 134] ebenso wie im zweiten Band den Hinweis, dass Speyer der erste großformatige, durchgehend gewölbte Bau nördlich der Alpen sei [Barral 1998, 197-203]. Das ist eine Vermeidungsstrategie, verständlich, aber unwissenschaftlich.
Aber sie illustriert die ‚Klimmzüge′, zu denen Mediävisten gezwungen werden, um nicht das wacklige Konstrukt der Karolingerzeit einzustürzen. Selbst klar Herausgearbeitetes lässt sich im rechten Moment nicht mehr erkennen. So wird die ‚doppelte′ Evolution der Gewölbe ebenso unverständlich bleiben wie der rapide Wechsel von der großen Bibliothek zur Bücherkiste und der 700 Jahre lange Weg zurück zur gleich großen Bibliothek. So rettet sich Wissenschaft: Karl bleibt ‚am Leben′ und niemand muss irgendetwas ändern.
Literatur
Adam, Ernst (1968): Vorromanik und Romanik; Umschau, Frankfurt a. M. (Hg. Harald Busch: Epochen der Architektur)
Barral i Altet, Xavier (1998): Romanik · Städte, Klöster und Kathedralen; Taschen, Köln (Taschens Weltarchitektur, Hg. Henri Stierlin)
– (1997): Frühes Mittelalter · Von der Spätantike bis zum Jahr 1000; Taschen, Köln (Taschens Weltarchitektur, Hg. Henri Stierlin)
Binding, Günther (1991): Ottonische Baukunst in Köln; in Euw, Anton von / Schreiner, Peter (Hgg 1991): Kaiserin Theophanu · Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends · Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin; Schnütgen-Museum, Köln, S. 281-298
C. = Campbell, James W. P. (2013): Die Bibliothek · Kulturgeschichte und Architektur von der Antike bis heute; Knesebeck, München
Heckner, Ulrike (2012): Der Tempel Salomos in Aachen ‒ Datierung und geometrischer Entwurf der karolingischen Pfalzkapelle; in Heckner, U. / Beckmann, Eva-Maria (2012): Die karolingische Pfalzkapelle in Aachen · Material · Bautechnik · Restaurierung; Werner, Worms
Illig, Heribert (1996): Das erfundene Mittelalter; Econ, Düsseldorf, spätere Auflagen Ullstein, Berlin
K. = Kaiser, Wolfgang (1996): Romanische Architektur in Deutschland; in Toman, Rolf (Hg. 1996): Die Kunst der Romanik · Architektur · Skulptur · Malerei; Könemann, Köln, 32-73
Kessler, Cordula Maria (2010): Gotische Buchkultur · Dominikanische Handschriften aus dem Bistum Konstanz; Akademie vlg., Berlin
Kubach, Hans Erich (1986): Romanik (Weltgeschichte der Architektur); DVA, Stuttgart
maße = https://www.dom-zu-speyer.de/wissenswert/masse/
Neuheuser, Hanns Peter (1991): Der Kölner Dom unter Erzbischof Bruno; in Euw, Anton von / Schreiner, Peter (Hgg 1991): Kaiserin Theophanu · Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends · Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin; Schnütgen-Museum, Köln, S. 299-310
Reidinger, Erwin (2011): 1027 · Gründung des Speyerer Domes. Orientierung – Achsknick – Erzengel Michael; Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, Bd. 63, 9-37
Oursel, Raymond / Stierlin, Henri (o. J., 1994): Romanik (Architektur der Welt); Taschen, Berlin
wiki = https://de.wikipedia.org/wiki/ → Artikelbezeichnung
Winterfeld, Dethard von (1993): Die Kaiserdome Speyer, Mainz, Worms und ihre romanisches Umland; Zodiaque Echter, Würzburg
Abbildungsnachweise
Archinform = https://deu.archinform.net/projekte/11371.htm
british = https://www.british-history.ac.uk/rchme/oxon/plate-27 (Ironwork)
dutch = https://thedutchluthier.wordpress.com/2018/05/06/a-chained-library/
Klosterplan = http://kulturschnitte.de/Kodikologie/scriptorium.htm
merton = https://www.merton.ox.ac.uk/about/history-merton
Merton College = https://www.merton.ox.ac.uk/library-and-archives
Ralphs = https://ralphs-lesewelt.weebly.com/armarium.html
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