Eine Glosse von Heribert Illig
Die Kleinstadt Sutri in Latium hält Überraschendes bereit. Hier lag eine Etruskeransiedlung, wie viele typische Etrusker-Gräber im Tuffstein demonstrieren. Hier ist aber auch ein ganzes Amphitheater mit den Grobmaßen 50 x 40 m aus dem Felsen geschlagen worden.
Die Anlage wollte man ebenfalls den Etruskern zuschreiben, bezieht sie aber heute meist auf die späte römische Republik. Wer in die siebenschiffige Krypta der Kathedrale hinabsteigt, kommt an einer Wandtafel mit wichtiger Information vorbei: Hier hat der deutsche König Heinrich III. anno 1046 mit Benedikt IX., Silvester III. und Gregor VI. gleich drei Päpste abgesetzt und anschließend seinem Clemens II. auf den Stuhl Petri geholfen; von Clemens ist er anschließend zum Kaiser gekrönt worden. Das geschah auf der Synode von Sutri. Dieser Eingriff in päpstliche Rechte gilt als Beginn des Investiturstreites, für manche auch als Beginn des Hochmittelalters. Es folgte noch das Konkordat von Sutri, 1111, bei dem – nun mitten im Investiturstreit – der Kaiser auf die Bischofsinvestitur, also -ernennung verzichtete. Doch das wurde bald widerrufen.
Soweit könnte die Vergangenheit ruhen. Doch wenn wir durch den Ort schlendern, stehen wir jäh und erstaunt vor dem Palazzo di Carlomagno.
Das muss nun überraschen, denn die erhaltenen Reste stammen keineswegs aus der Zeit um 800, sondern aus dem 13. oder 14./15. Jh. Nicht genug damit. In der archäologischen Zone findet sich zu allem Überfluss auch noch ein Raum, in dem Bertha, Karls Schwester, ihren Roland, den späteren Grafen der bretonischen Mark, geboren haben soll.
Hier also wäre der spätere Paladin geboren worden, den Karl blutschänderisch mit seiner Schwester gezeugt haben soll. Dieses Geburtszimmer ist allerdings kein hieb- und stichfester Hinweis auf „porphyrogennetos“, also purpurgezeugt, wie das den byzantinischen Kaisern entsprach, handelt es sich doch um nichts anderes als ein düster-feuchtes Etruskergrab. Vielleicht ist das so wie bei Kontaktreliquien: Ein normaler Gegenstand wird durch Berührung mit einer echten Reliquie zu einer Kontaktreliquie. Ähnlich kann aus einem Etruskergrab ein Karlsgemach werden, wenn nur sein Name in der Nähe ausgesprochen wird…
Was lernen wir daraus? Wenn es um den Streit zwischen Kaiser und Papst geht, kann Karl d. Gr. nie weit entfernt gewesen sein, hat er doch den schwer verletzten Leo III., fast geblendet und der Zunge beraubt, nach Paderborn beordert, um mit ihm die Modalitäten seiner Kaiserkrönung im Jahr 800 in Rom zu besprechen. So sollte wohl aus kaiserlicher Sicht das Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden ‚Supermächten‘ geregelt sein. Dafür kann man auch einen spätmittelalterlichen Palast seiner kaiserlichen Hoheit zuschreiben und einen Raum für die inzestuöse Gnade finden, real geboren worden zu sein. Aber wir wollen nicht über Roland spotten. Wir kennen seinen Weg über die Pyrenäen, genannt die Rolandsbresche, wir besaßen bis zu ihrer Zerstörung die Grabstätte, die ihm Karl im aquitanischen Blaye bereiten ließ,
und wir kennen unterhalb von Roncesvalles das Silo de Carlomagno, eine Gedächtniskapelle aus dem 12. Jh., in der die übrigen Paladine ruhen – als seine mit Abstand älteste Grablege
wohlversorgt vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Mehr Realität geht gar nicht. Oder sollen wir auch noch den Olifant, also das Elfenbeinhorn Rolands hervorholen? Es ruht in Santiago di Compostela,
wenn es nicht in der Schatzkammer des St.-Veits-Doms zu Prag verwahrt wird. Außerdem kennen wir ja den karolingerzeitlichen Bericht von Walahfrid Strabo, der in seiner Visio wettini alles Wesentliche berichtet: In Begleitung eines Engels visitiert der Mönch Wetti die Hölle. Dort sieht er unter anderem, wie ein wildes Tier Karls des Großen Gemächt wegen der Blutschande zerfleischt.
Damit erübrigt sich jede weitere Frage nach dem Realitätsbezug Karls des Großen und seiner Umgebung.
Es gibt aber in Sutri doch noch einen Ort der Kultkontinuität, der seriös betrachtet sein will. Dies macht Christoph Henning (1989): Latium · Das Land um Rom; DuMont, Köln, S. 137:
„In der Nähe des Amphitheaters findet sich die Felskirche Madonna del Parto. […] Die Grotte, in der sich die Kirche befindet, war zunächst eine etruskische Grabanlage (6. Jh. v. Chr.), wurde dann zu einem Mithräum (Kultort der Mithras-Religion) umgewandelt (2. Jh. n. Chr.). Die Felsbänke in der Höhle dienten den Mithras-Anbetern für ihre kultischen Bankette. Ab dem 6. oder 7. Jh. wurde der Raum als Kirche genutzt […] In einem kleinen Vorraum sieht man Freskenreste des 10.‒14. Jh. (hl. Christophorus, Heilige, Michaelslegende). Der Hauptraum mit seinen Tuffpilastern und Felsbänken hat über dem Altar ein Fresko der Geburt Christi (14./15. Jh.), an der linken Wand Freskenreste des 12. Jh., im Gewölbe nur noch schwach erkennbare Darstellungen der Erzengel, die möglicherweise noch aus dem 6./7. Jh. stammen.ʺ
Das ist eine schulmäßige Zusammenstellung zugunsten des erfundenen Mittelalters, geschrieben kurz vor seiner Entdeckung:
-6. Jh. | etruskisch |
+2. Jh. | römisches Mithräums |
6./7. Jh. | Umwandlung in eine Kirche, doch dann jahrhundertelange Pause, damals vielleicht erste Fresken |
10.‒14. Jh. | Fresken |
12. Jh. | Fresko |
14./15. Jh. | Fresko. |