Vergleiche zur ‚karolingischen Karlsstatuette’ von Heribert Illig
Hochberühmt ist die Reiterstatuette, die der Louvre bewahrt. Ehrfürchtig wird sie umwandert, soll sie doch eine, vielleicht sogar die erste plastische Porträtdarstellung aus dem Abendland sein – und selbstverständlich ein Höhepunkt der karolingischen Kultur. Wie ist der Stand der Forschung?
„Bei der sogenannten Reiterstatuette Karls des Großen handelt es sich um ein wohl 870 in Metz entstandenes Miniatur-Reiterstandbild mit einer Darstellung möglicherweise Karls des Großen, das wahrscheinlicher aber seinen Enkel Karl den Kahlen zeigtʺ [wiki: Reiterstatuette Karls des Großen].
Das ist nicht übermäßig viel. In der englischen Wikipedia wird zusätzlich ausgeführt, dass die 24 cm hohe, ursprünglich vergoldete Bronzefigur aus drei Teilen bestehe: Pferd, Reiter mit Sattel und sein Kopf. Claudia List [1983, 45 ff.] sah auch Schweif und Pferdefüße separat gegossen, ein Urteil, das nicht leicht abzugeben ist, weil die Statuette 1871 schwer beschädigt und repariert worden ist.
Es bleibt umstritten, welcher Karl dargestellt sei; gegenwärtig neige man eher Karl dem Kahlen zu, auch wenn das die englische Wikipedia in ihrer Artikelüberschrift noch nicht wahr haben will [en.wiki: Equestrian statuette of Charlemagne]. Eine andere französische Website [Gathelier 2011] spricht sich gleichwohl für Karl den Großen und die erste Hälfte des 9. Jh. aus, sieht aber in dem Pferd eine wiederbenutzte Antike, weil der Reiter zu groß für das Tier sei.
Auch im deutschen Sprachraum bleibt das Kunstwerk umstritten. Gert Zeising [1999] hat einschlägige Stimmen zusammengestellt. In frühen Analysen [Beissel 1909, 79; Lill 1925, 11] sah man Ross und Reiter als einheitliche Arbeit des 15./16. Jh. 1972 sah Anton Legner [Jaenicke/Legler 1972, I:12] zeitlich getrennte Skulpturen: „Das Pferd mutet so antikisch an, daß es oft als ein Werk der Renaissance angesehen wird.″ Wenig später Hubertus Günther [1975, 21]: „Das Pferd stammt in seiner heutigen Gestalt aus dem 15. Jahrhundert″. Gemäß dem dtv-Lexikon der Kunst [1994, VI:94] stammt es sogar aus dem 16. Jh. [bis hierher Zeising, 459-466].
2015 wurde in Hildesheim das „Forum Kunst des Mittelalters″ veranstaltet. In seinem Vortrag gab der Ingenieur und Kupferspezialist Jean-Marie Welter seinen Befund bekannt, der schon im Titel enthalten ist: „Karl der Große und sein Pferd: eine zeitgleiche Schöpfung″. Welter zufolge soll in der Forschung mittlerweile Einigkeit darüber herrschen, dass Karl der Große dargestellt und der Guss im 9. Jh. erfolgt sei. Keine Einigkeit bestehe beim Pferd, da es zwar nicht der Renaissance, wohl aber der spätrömischen Zeit entstammen könnte. Dem widerspricht Welter, lasse sich doch dank Studien am Aachener Karlsskelett und an karolingischen Pferdeskeletten nachweisen, dass die Größenrelation zwischen damaligen Rössern und Reiter stimme. Auch seien beider Materialanalysen identisch, beide mit einem niedrigen Bleigehalt, wie er für die Vergoldung notwendig sei. Es folgt eine eher esoterische Passage Welters:
„Wenn auch einige ornamentale Details sich in Reiter und Pferd wiederfinden, so ist die größte Übereinstimmung in den Kraftlinien von beiden zu sehen. Auffallend ist die vertikale Ausrichtung von Reiter und Pferd, was sie stark unterscheidet von römischen Reiterdenkmälern mit ihrer horizontalen Betonung, wie die des Marc Aurel.″ [Welter]
Es lohnt sich also, das Kunstwerk noch einmal zu betrachten und mit anderen Reiterbilder zu vergleichen. Einigkeit besteht darin, dass die Statuette dem Reiterstandbild Mark Aurels auf dem Kapitol in Rom nachgebildet ist; diese Statue überlebte als einzige antike Reiterstatue, weil sie als Abbild des ersten christlichen Kaisers, Konstantin d. Gr., galt. Sie zeigt den Kaiser mit Tunika und Feldherrnmantel. Die Sitzhaltung ist für uns ungewohnt, weil die Römer noch keine Steigbügel hatten. Das Pferd Mark Aurels misst 3,87 in der Länge, 3,52 m in der Höhe; insgesamt ist die Statue 4,24 m hoch [wiki: Reiterstatue Mark Aurels] und damit eher vertikal ausgerichtet. Über die „Kraftlinien″ hinausgehende kunsthistorische Betrachtungen hat Welter nicht angestellt.
Die sog. Karlsstatuette misst in der Höhe nur 5 % ihres Vorbilds und sitzt wie ihr Vorbild ohne Steigbügel im Sattel, obwohl diese Reithilfen in der Karlszeit existiert hätten. Hier trägt der Reiter ebenfalls eine Art Tunika und einen Mantel, allerdings keine Sandalen, sondern fränkisches Schuhwerk mit Gamaschen. Auch Krone und die Erdkugel in der Linken entsprechen nicht der Antike. Das auf vielen Abbildungen gezeigte Schwert in seiner Rechten ist eine späte Ergänzung; ein Zepter dürfte passender sein.
Mangels irgendwelcher Vergleichsstücke besteht zwangsläufig Einigkeit darüber, dass in der Karolingerzeit keine weitere Skulptur mit Porträtähnlichkeit existiert. Als früheste derartige Darstellung gilt der Cappenberger Barbarossa-Kopf von ca. 1160, ausgeführt in Rotguss, also einer Legierung aus Kupfer, Zinn, Zink und Blei. Auch hier kam das Wachsausschmelzverfahren in verlorener Form zum Einsatz [wiki: Rotguss].
Dieses früh in ein Reliquiar umgewandelte Kunstwerk ist 31,4 cm hoch. Die vielleicht zehnfache Kopflänge gegenüber der ‚Karlsstatuette′ erlaubt hier tatsächlich das Bemühen um Ähnlichkeit, während sie bei der ‚Karlsstatuette′ im Wesentlichen vom Schnurrbart hergeleitet wird, der sich auch auf den wenigen Karlsdenaren mit Herrscherporträt findet, die aber gefälscht sein dürften [Zeising, 465 f.].
Auch nach dem Cappenberger Kopf sind dreidimensionale, bronzene Porträtabbildungen im hohen Mittelalter selten.
Erst auf dem Zepter Karls V. (1365‒1380) ist um 1350 Karl der Große dargestellt. Die Metallbearbeitung ist bei diesem kleinen Wunderwerk bereits weit vorangetrieben; sie lässt keinen Vergleich mit der Reiterstatuette zu, eher „stilistische Nähe zum aufkommenden Realismus in der Monumentalskulptur″ erkennen [Duby/Daval, 426].
Nachdem die Reiterstatue Mark Aurels als solche erkannt und von Michelangelo auf dem Kapitol wieder aufgestellt worden war, wurde sie auch als Statuette kopiert, etwa von Ludovico del Duca; seine Statuette ist für 1553 nachweisbar [heute Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst; Staatliche Museen zu Berlin]. Obwohl rund 700 Jahren nach der ‚Karlsstatuette’ gegossen, gehört sie noch immer zu den ersten ihrer Art.
Aquamanilen
Angesichts dieser absoluten Ausnahmestellung der ‚Karlsstatuette’ müssen weitere Metallarbeiten gesucht werden. Es gibt tatsächlich Bindeglieder zwischen der sog. Karlsstatuette und dem Cappenberger Kopf, die in der Debatte gerne übersehenen Aquamanilen. Der Typus ist für Handwaschungen im Orient entstanden und im hohen Mittelalter nach Europa gelangt, wo diese Geräte auch während der Messzeremonie eingesetzt wurden. Mittlerweile sind um die 400 Exemplare gefunden worden [Olchawa, 3].
„Die ältesten Aquamanile hatten die Form eines menschlichen Kopfes, etwa ein Gefäß, welches im Aachener Dom aufbewahrt wird. Ihre Blütezeit hatten sie im Hoch- und Spätmittelalter″ [wiki: Aquamanile].
Das Stück aus der Aachener Domschatzkammer wird auf 1170/80 datiert. Es ist demnach nicht älter als der Cappenberger Kopf und wird manchmal als ein Porträt Karls d. Gr. angesprochen. Diese Benennung ist willkürlich, da niemand weiß, wie Karl ausgesehen hat.
Entsprechende Gefäße in Reiterform sind etwas jünger. Doch ein Rundblick erbrachte keines, das noch dem 12. Jh. angehört. So wird ein Reiter als Aquamanile (Metropolitan Museum of Art, New York City) in die zweite Hälfte des 13. Jh. datiert.
Dasselbe gilt für weitere Gefäße dieser Art. Sie kommen damit als Verbindungsglieder zwischen ‚Karlsstatuette’ und Cappenberger Kopf nicht in Betracht.
Demnach gibt es auf dem Gebiet der metallischen Kleinkunst, ob in Bronze, Messing oder Elektrum, keine Kleinplastik, die älter als der Cappenberger Kopf von 1160 wäre. Damit bleibt die rund drei Jahrhunderte währende Lücke seit 860 unverändert bestehen.
Aber es gibt einen gestalterischen wie technischen Hinweis: die Pferdemähne. Bei den abgebildeten Exemplaren ist die Mähne niemals plastisch gestaltet. Auch bei der Vielzahl der übrigen kleinen Löwen, Zentauren und Fabeltieren wird die Mähne ziseliert, nicht bereits in der dann verlorenen Tonform gestaltet und mitgegossen. Sie dürfte zu aufwändig gewesen sein. Doch die feine Bearbeitung, sogar mit Hinterschneidungen bei den Stirnsträhnen ist für die sog. Karlsstatuette typisch, wie sich sogar am Aufdruck eines T-Shirts zeigen lässt.
Das erlaubt uns auch einen Rückblick auf die Statue Mark Aurels. Sie hat sehr wohl eine gut ausgearbeitete Mähne und zwischen den Ohren ein Haarbüschel, das wie ein Horn aussieht. Das wurde bei der ‚Karlsstatuette’ imitiert, was bei der bescheidenen Größe nicht leicht ist. Andere antike Pferde wie die byzantinische Quadriga, die heute vor und in Venedigs Markusdom steht, haben keine ‚wallende’, sondern sehr kurz gehaltene Mähnen. So haben wir mit der ‚Karlsstatuette’ ein auch technisch hochwertigeres Artefakt als die Aquamanilen vor uns. Damit scheidet dieses kleine Kunstwerk als Erzeugnis des frühen und hohen Mittelalters ebenso aus wie als spätrömisches.
Die Suche nach Vergleichsstücken wird generell wenig betrieben, was uns nicht daran hindern soll. Wie steht es denn mit anderen, größeren Metallarbeiten, die uns ebenfalls Hinweise geben könnten?
Kein Reiterstandbild ist der allseits bekannte Braunschweiger Löwe, der als „älteste erhaltene Großplastik des Mittelalters nördlich der Alpen und [als] erster größerer figürlicher Hohlguss seit der Antike″ gilt. „Der Bronzeguss wiegt 880 kg, hat eine Höhe von 1,78 m, eine Länge von 2,79 m und eine maximale Wandstärke von 12 mm″ [wiki: Braunschweiger Löwe]. Er wurde gegen 1166 im Zentrum Braunschweigs platziert. Damit bezeugt er zusammen mit dem Cappenberger Kopf und den nachfolgenden Aquamanilen den Beginn der künstlerisch anspruchsvollen Bronze- und sonstigen Metallbearbeitung im deutschen Raum.
Die erste größere Reiterstatue in Bronze steht im Hradschin von Prag, ein hl. Georg als Drachentöter, präzise auf 1373 datiert [cz]. Die Präzision der Jahres-Angabe ist eine nur scheinbare, wurde doch 1562 das Pferd so schwer beschädigt, dass noch im 16. Jh. ein Neuguss erfolgte, der heute vor dem St. Veit-Dom steht, während die beschädigte Urform im Hradschin aufbewahrt wird. „Es handelt sich hierbei um die erste uns bekannte Statue, die freien Raum geziert hat, die also an kein Bauobjekt gebunden war″ [prague]. Wir bewegen uns dabei in einer Zeit von 500 Jahren nach den mutmaßlichen Karolingern.
Die großen Reiterstandbilder der Renaissance ‒ Donatellos Gattamelata in Padua, Verrocchios Colleone in Venedig, Giovanni da Bolognas Cosimo I. in Florenz ‒ stammen alle aus der Zeit nach 1446.
Noch in der Renaissance sind Statuetten ohne manuelle Funktion (Stichwort Aquamanile) selten: So wurde etwa Leonardos da Vinci nie vollendete Riesenstatue für Francesco Sforza zwischen 1505 und 1508 in seiner Werkstatt als Kleinplastik von 23,5 cm Höhe dargestellt [Duby/Daval, 599]. Und von Andrea Briosco Riccio existiert aus derselben Zeit „der schreiende Reiter″ mit 41 cm Höhe [ebd.]. Demnach hätte die ‚Karlsstatuette’ für mehr als 600 Jahre keinen Nachfolger evoziert.
Großgüsse aus Bronze
Eine Sonderentwicklung nahm der Guss von Kirchentüren und Grabplatten. Sie beginnt vermeintlich unter Karl dem Großen mit den verschiedenen Türflügeln für die Aachener Pfalzkapelle. Danach reißt allerdings die Fähigkeit jäh ab:
„Der karol. B.G. [Bronzeguss] erlosch bald. Erst um 1000 lebte die B.P. [Bronzeplastik] neu auf, anscheinend im Anschluß an karol. Werke: die B.-Türen des Erzbischofs Willigis (975–1011) am Mainzer Dom vom Meister Berengar″ [Weihrauch].
Realistischer ist ein Beginn mit den Mainzer Domtüren, die den Aachener Exemplaren in Gussausfertigung und Gestaltung entsprechen. Sie werden auf das Jahr 1000 datiert, korrekter auf die Zeit bis zur Domweihe, die am 29. August 1009 stattfand und bei der dieser Neubau abbrannte. Bald darauf wären die Hildesheimer Bernwardstüren entstanden, die allerdings bei ihrem reichen Figurenschmuck mit 1015 deutlich zu früh datiert erscheinen. Erste gegossene Kreuze wie das Kruzifix von Minden und das von Essen-Werder werden in der zweiten Hälfte des 11. Jh. angesetzt [vgl. Illig 2018, 459]. Die Grabplatte für König Rudolf von Rheinfelden (von Schwaben) im Merseburger Dom wird bei 1080 gesehen, sie gilt als „die erste und somit älteste überlieferte Grabplatte figürlicher Art″ [wiki: Grabmal Rudolfs von Rheinfelden]. Allerdings wird die nächstfolgende Grabplatte erst 1285 für Rudolf von Habsburg geschaffen – und das in Stein [ebd.]. Hier Klarheit zu schaffen bleibt einer weiteren Studie überlassen (bislang [Illig 1996, 283-286; 2018, 456-461]). Im 12. Jh. gab es viele Möglichkeiten für gegossene Kleinkunstwerke: Taufbecken, Brunnen, Kreuzfüße, Gefäße, Weihrauchfässer, Kruzifixe, Türklopfer, gravierte Bronzeschalen und Glocken [Weihrauch]. Solche sind in beliebiger Zahl auch erhalten, 250 Jahre nach den Karolingern.
Reiterstatuen aus Stein
Ein Zitat aus Wikipedia zeigt die Brüchigkeit der Überlieferung ungewollt deutlich:
„Reiterstandbilder waren bereits in der Antike ein Herrschaftssymbol. Diese Tradition wurde von Karl dem Großen fortgesetzt. So ließ er das Reiterstandbild Theoderichs im Jahre 801 aus Oberitalien nach Aachen bringen, – vermutlich da es keine fränkischen Künstler gab, die ein Standbild in ähnlicher Qualität hätten meißeln können. Der Kaiser ließ diese Skulptur vor der Pfalz aufstellen. Dieses Reiterstandbild ist nicht erhalten, aber literarische Quellen geben an, dass es »dem großen Kaiser nicht zuletzt die Achtung und Verehrung als weströmischer Kaiser und die Gleichrangigkeit mit dem oströmischen, in Byzanz residierenden, sichern« sollte. Außerdem entstand um 870 eine Reiterstatuette aus der jüngeren Metzer Schule, welche nach einer bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgbaren Lokaltradition den reitenden Herrscher Karl den Großen darstellt. Diese Statue befindet sich im Pariser Louvre.
Kaiser Otto sah sich in der Tradition Karls des Großen. Der ottonische Kaiser beanspruchte die Führung des Abendlandes für sich und ließ Magdeburg als »neues Aachen« ausbauen. Das macht es wahrscheinlich, dass bereits zu Ottos Lebzeiten vor seinem Palast ein Reiterstandbild aufgestellt wurde, das nicht erhalten geblieben ist″ [wiki: Magdeburger Reiter].
Schälen wir das Faktische heraus: Karl ist der legendäre Vorreiter, der angeblich ein nicht erhaltenes, nur literarisch erwähntes Reiterstandbild des Theoderich aus Ravenna holen ließ, das mit Sicherheit nicht aus Stein, sondern ‒ wie bei den späten Römern üblich ‒ aus Bronze gewesen wäre. In dieser Tradition hätte im 10. Jh. Otto d. Gr. eine Reiterstatue errichten lassen, die wiederum nicht erhalten ist. Aus ihr leitet sich dann der Magdeburger Reiter ab, der tatsächlich existiert und tatsächlich aus Stein gemeißelt ist, aber zu Otto einen Zeitabstand von fast 300 Jahren, zu Karl einen von 440 Jahren hält.
Nachdem also hier ‒ eher ungewollt ‒ auch Steinplastiken herangezogen wurden, wollen wir nicht versäumen, weitere Kunstwerke aus anderen Materialien zu sichten. Steinerne Reiterstandbilder sind werkstoffbedingt eher großformatig. Es gibt tatsächlich steinerne Reiter an kirchlichen Westfassaden. Hinzuweisen ist auf eine Arbeit an der Kirche Saint-Pierre von Châteauneuf-sur-Charente.
Ein weiterer Reiter wird an Saint-Pierre in Parthenay-le-Vieux, gezeigt. Im nördlichen Nouvelle-Aquitaine gibt es in der Umgebung von Parthenay weitere Reiterskulpturen: an den Kirchen Saint-Hilaire in Melle (ca. 1150), Saint-Pierre in Aulnay, Saint-Nicolas in Civray und Saint-Pierre in Airvault.
Die beiden abgebildeten Reiterreliefs werden der Zeit um 1100 zugerechnet, also der Anfangszeit französischer Skulptur. Es werden Verbindungen hin zu den Kreuzzügen ebenso wie zu Konstantin d. Gr. vermutet.
Eine Besonderheit bieten die Archivolten romanischer Portale. Denn hier werden des Öfteren auch die Tierkreiszeichen dargestellt. Zu ihnen gehört der Schütze, der gerne als Kentaur, als Pferdemensch dargestellt wird. Derartige Darstellung treten nach 1100 auf, wenn die Bildhauerei solche Kleindarstellungen bewältigt. Als Beispiel eine Archivolte vom Portal von Sainte-Marie-Madeleine in Vézelay [Duby/Daval, 286]. Am selben Tympanon finden sich ein oder zwei Reiter, die an das troianische Pferd denken lassen, nachdem an einem Pferd eine Leiter lehnt.
Reiter treten auch an Portalwänden wie denen von Ripolls Klosterkirche oder San Zeno in Verona auf, doch keiner vor dem 12. Jh.
Erst später setzt in Deutschland die Reihe porträtähnlicher Darstellungen ein, beginnend mit dem Bamberger Reiter, in Arbeit von 1225 bis 1237. Sie wird fortgesetzt vom Magdeburger Reiter aus der Zeit um 1240.
Fast gleichzeitig ist ein Sandsteinrelief entstanden: der aus dem Mainzer Dom stammende Bassenheimer Reiter, um 1240. Unmittelbar folgt, noch vor 1250, jener hl. Martin, der in Lucca an der Domfassade seinen Mantel mit dem Bettler teilt. Danach finden sich zunächst keine Reiterstandbilder mehr. Erst ein Jahrhundert später folgen mehrere der Scaliger in Verona, die rings um ihre Kirche Santa Maria Antica stehen, außerdem die Grabstatue des Bonino da Campione, die heute das Mailänder Castello ziert.
Unterm Strich ist festzuhalten: Wer einen Karl d. Gr. um vielleicht 840 abbilden wollte, dem wären Nachfahren erst 400 Jahre später gefolgt.
Ein Stucksoliltär und Elfenbein
Die große zeitliche Lücke von rund 300 Jahren zwischen ‚Karlsstatuette′ und Cappenberger Kopf wurde früher allenfalls durch die Stuckplastik Karls aus der Klosterkirche von Müstair ein Stück weit geschlossen. Doch inzwischen wird sie nicht mehr als zeitgenössisch gesehen, sondern seit 2003, als ein Abguss ins Berliner Geschichtsmuseum wanderte, als Werk des 12. Jh. [Lemo]. Mittlerweile gilt sogar: „Die bekannte Karlsstatue dürfte aber aus dem Beginn des 13. Jahrhunderts stammen″ [Hartmann/Hartmann 2014, 127].
Das Original mit seiner Höhe von 1,87 m steht noch immer am Chor der Kirche. Ihm wurde übel mitgespielt: Nur Kopf, Oberkörper und Chlamys sind aus Stuck geformt; Rumpf, Tunika und Beine wurden später ergänzt. Auch die Hände und ihre Attribute Zepter und Reichsapfel sind spätere, ungeschickte Anfügungen. Dazu kam ein allzu bunter Anstrich, der um 1878 ersetzt wurde durch eine ziemlich gräuliche Farbgebung. Allzu viel Ehre hat man dem Kaiser nicht erwiesen, der ohnehin erst 1488 seinen Platz einnahm und mit dem Epitheton „mangnus″ [sic] geehrt wurde [Böhmer, 62]. Eine Expertengruppe, die seit 2014 die Statue akribisch analysiert und datiert, wollte 2015 ihre Ergebnisse vorlegen, doch das ist bis heute – April 2019 – nicht geschehen.
Elfenbeinarbeiten entstammen einer ganz anderen Traditionsrichtung aus der Spätantike. Während damals die Darstellung von Reiter und Pferd in Perfektion beherrscht wurde, erlischt diese Fähigkeit im frühen Mittelalter gänzlich. Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg verwahrt einen byzantinischen Kamm von 10 cm Breite, der dem 10. Jh. zugeschrieben wird [objektkatalog] und gut illustriert, wie wenig man damals in der Lage war, Pferde wiederzugeben:
Dieser Künstler aus einer reicheren Kunstlandschaft als der karolingischen wäre nicht in der Lage gewesen, ein rundplastisches Pferd zu formen. Eine erste ritterliche Reliefdarstellung in Elfenbein finde ich erst im 14. Jh., genauer 1325‒1350, British Museum in London [Duby/Daval, 409].
Fazit
Deshalb kann das Urteil nur lauten: Mangels entsprechender Gegenstücke aus der Spätantike, aus dem 9., 10. und 11. Jh. handelt es sich bei der ‚Karlsstatuette′ um ein späteres Produkt, sehr wahrscheinlich aus dem 15./16. Jh., das in Anlehnung an die große Statue Mark Aurels im Rückgriff auf die Antike gestaltet worden ist. Das erklärt die fehlende, d.h. nicht herausgearbeitete Brustmuskulatur des Pferdes, die bei römischen Bronzepferden häufig zu erkennen ist, ebenso wie die kunstfertige Mähne, die den technischen Fähigkeiten der Hoch- und Spätrenaissance entspricht.
Die ‚Karlsstatuette′ ist ‚altersgerecht’ mit einer römischen Tunicella und einem Mantel gekleidet [Feulner/Müller lt. Zeising, 460], aber mit fränkischem Schuhwerk samt Gamaschen und mit einer bei den Römern nicht üblichen Krone versehen. Die selbst bei den steinernen Reiterfiguren nach 1220 und den bronzenen Aquamanilen durchwegs dargestellten Steigbügel fehlen hingegen, weil sie auch bei der Mark-Aurel-Figur fehlen (die Römer kannten noch keine Steigbügel). Der Verdacht, ein Renaissance-Pferd vor sich zu haben, ist spätestens von Legner geäußert worden [Legner 1972 lt. Zeising 1999, 461]. Das gilt nun auch für den Reiter, wobei es sich auch hierbei nur um eine Bestätigung handelt. Massimo Ferretti [I: 241] schrieb 1991: „Die erste Bronzestatuette der Renaissance ist nicht zufällig eine Reproduktion en miniature des Reiterstandbilds des Marc Aurel.″ Ferretti bezog sich dabei auf die Tatsache, dass das antike Großwerk unter Papst Paul II. (1466‒1468) restauriert und ab da immer wieder kleinformatig reproduziert worden ist [Zeising, 467]. Damit ist geklärt: Es gibt keine karolingische ‚Karlsstatuette′. Die Reihe der plastischen Personendarstellungen oder gar Porträts beginnt tatsächlich erst mit dem Cappenberger Kopf und dem oben genannten Aquamanile-Kopf, beide nach 1150. Die ‚Karlsstatuette’ ist eine Schöpfung der Renaissance. Zeit dafür war genug, wird sie doch in Inventaren des Kirchenschatzes der Kathedrale von Metz erst 1657 sicher, 1567 vermutlich genannt [Zeising, 459].
Literatur
Beissel, Stephan (1909): Gefälschte Kunstwerke; Herder, Freiburg i. Breisgau
Böhmer, Roland (1997): Die Stuckfigur Karls des Grossen in Müstair; Kunst + Architektur in der Schweiz, 48 (4) 62-65
costumes = http://evashistoricalcostumes.blogspot.com/2016/10/a-13th-century-aquamanile-of-knight-and.html
cz = http://www.digital-guide.cz/de/poi/die-prager-burg/die-reiterstatue-des-hl-georg/
dtv-Lexikon der Kunst, Bde. 3, 6 (1996); dtv, München
Duby, Georges / Daval, Jean-Luc (Hgg. 2002): Skulptur von der Antike bis zur Gegenwart; Taschen, Köln
Falke, Otto von / Meyer, Erich A. (1944): Romanische Leuchter und Gefäße / Bronzegeräte des Mittelalters I; Berlin 1935
Ferretti, Massimo (1991): Fälschungen und künstlerische Tradition; in Bellosi, Luciano u. a.: Italienische Kunst · Eine neue Sicht auf ihre Geschichte; dtv, München (ital. 1979)
Feulner, Adolf / Müller, Theodor (1953): Deutsche Kunstgeschichte Band II. Geschichte der deutschen Plastik; Bruckmann, München
Gathelier, Nathalie (2011): Statuette équestre de Charlemagne ou Charles le Chauve; https://www.panoramadelart.com/statuette-equestre-de-charlemagne-ou-charles-le-chauve
Günther, Hubertus (1975): Bruckmann’s Handbuch der deutschen Kunst; Bruckmann, München
Hartmann, Martina & Wilfried (2014): Karl der Große und seine Zeit · Die 101 wichtigsten Fragen; Beck, München
Illig, Heribert (2018): Kreuz und Kruzifix. Eine sinnstiftende Betrachtung; Zeitensprünge, 30 (3) 426-467
– (1996): Das erfundene Mittelalter; Econ, Düsseldorf (spätere Auflagen Ullstein, Berlin)
Jaenicke, Anselm / Legner, Anton (1972): Deutsche Bildwerke Band 1: Mittelalter; Scherpe, Krefeld
Lemo = Lebendiges Museum online (Stiftung Haus der Geschichte der deutschen Bundesrepublik, Bonn / Stiftung Deutsches Historisches Museum, Berlin / Das Bundesarchiv, Koblenz), Bestand / Karl der Große
List, Claudia (1983): Kleinbronzen Europas vom Mittelalter bis zur Gegenwart; Keyser, München
objektkatalog = Doppelkamm (Kamm aus Elfenbein); http://objektkatalog.gnm.de/objekt/KG829
Olchawa, Joanna (2014): Funde, Formen und Funktionen. Sozialgeschichtliche Überlegungen zu Aquamanilien in und aus Ostmitteleuropa, in: kunsttexte.de/ostblick, Nr. 2: Gemeine Artefakte, 2014, 1-19 (www.kunsttexte.de/ostblick)
prague = Statue des Hl. Georg (Socha sv. Jiří); https://www.prague.eu/de/objekt/orte/1864/statue-des-hl-georg-socha-sv-jiri
Weihrauch, Hans Robert (1944): Bronze, Bronzeguß, Bronzeplastik; RDK II, Sp. 1192-1216 (Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte; http://www.rdklabor.de/wiki/Bronze,_Bronzegu%C3%9F,_Bronzeplastik
Welter, Jean-Marie (2015): Karl der Große und sein Pferd: eine zeitgleiche Schöpfung; in Forum Kunst des Mittelalters, 16. – 19. September 2015 in Hildesheim (Flyer) www.hornemann-institut.de/german/download/KDM.2015_ABS_WEB.pdf
wiki = https://de.wikipedia.org/wiki/ → Artikelbezeichnung (auch en.wiki oder fr.wiki), letztmalig aufgerufen am 27. 03. 2019
Zeising, Gert (1999): „Zwischen den Zeiten“ oder Zeitensprung? Eine Schnittstelle und ein Konflikt zwischen spezialwissenschaftlicher und interdisziplinärer Forschung; Zeitensprünge, 11 (3) 459-479
Abbildungsnachweise
EC = European collections (Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst; Staatliche Museen zu Berlin)
eva = http://evashistoricalcostumes.blogspot.com/2016/10/a-13th-century-aquamanile-of-knight-and.Html
Khm = Kulturhistorisches Museum Magdeburg
louvre = Charlemagne Louvre OA8260 n1.jpg
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Charlemagne_Louvre_OA8260_n1.jpg?uselang=fr
met = https://www.metmuseum.org/toah/works-of-art/47.101.55/
stbenoit = https://www.art-roman.net/stbenoit/stbenoit13x.jpg
szeptre = https://www.panoramadelart.com/sceptre-de-charles-v
Uni-freiburg = http://www.geschichte.uni-freiburg.de/seiten/portlets/informationsveranstaltungen-fuer-b.a.-studierende/
wiki = https://de.wikipedia.org/wiki/ → Artikelbezeichnung (en.wiki oder fr.wiki)
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