Notre-Dame und Charlemagne

von Heribert Illig

Die Schäden des fürchterlichen Brandes der Kathedrale Notre-Dame von Paris werden in Jahren noch nicht behoben sein. Aber etwas Gutes hatten sie denn doch. Der deutsch-französische Sender „Arte“ sendete am nächsten Abend nicht nur Berlioz‘ Requiem, aufgeführt in Notre-Dame, sondern auch eine fundierte Sendung über die gotischen Kathedralen [Le Goff/Glassman]. Der Film stammt aus dem Jahr 2010 und bringt so wesentliche Fakten, dass sie hier wiederholt werden:

Gotische Kathedralen enthalten – wie im Film Prof. Paul Benoît ausführte ‒ viel mehr Eisen als gedacht, bis zu 35 Tonnen. Dieses Eisen war in der notwendigen Qualität (ähnlich heutigem Baustahl) nicht mehr von Hand zu schmieden, weil das nur bis zu einem Stangendurchmesser von 30 mm geht. Doch ab Mitte des 12. Jh. gab es wasserbetriebene Hammerwerke; eines ist im Kloster Fontenay nachgewiesen und nachgebaut. Damit ließen sich auch stärkere, qualitativ gute Eisenstangen schmieden. Außerdem ließ sich im Film zeigen, dass der Chor von Notre-Dame von Anfang an mit Strebewerk gestützt worden ist. Demnach ist die Überlieferung richtig, dass an dieser Kirche bereits 1160 oder in den direkt nachfolgenden Jahren die ersten Strebebögen der Gotik errichtet worden sind. An der Kathedrale von Noyon, die 1157 begonnen worden ist, fehlten sie noch.

Damit wechseln wir zum Aachener Dom, der Karl dem Großen zugeschrieben wird. Seine Kuppel wird von keinem Strebewerk gestützt, sondern von vier Eisenringankern gehalten (im 21. Jh. kam noch ein fünfter hinzu). Sie haben Durchmesser von deutlich mehr als 30 x 30 mm, nämlich:

Hauptringanker: Höhe 47 – 62 mm, Breite 67 – 70 mm [Maintz, 2005, 31],
Die nächsten beiden Anker: jeweils 60 x 60 mm [Maintz, 2008, 48].

Helmut Maintz, der im Jahr 2000 zum Dombaumeister ernannt worden ist, hat diese Maße genommen. Er wusste, dass derartige Eisenstangen von Hand gar nicht zu schmieden sind – sie können also nicht aus der Zeit um 800, sondern erst aus der Zeit deutlich nach 1100 stammen. Nur durch eine List konnte der Dombaumeister ‚seinen‘ Karls-Bau retten:

„Im Rahmen aller Untersuchungsöffnungen können wir übrigens festhalten, dass die Eisenringanker oder Eisenklammerringanker alle satt im karolingischen Mörtel lagen, also im Zusammenhang mit dem Aufmauern eingebaut worden sind. In einigen Publikationen wurde dies bezweifelt und der Umkehrschluss ausgeführt, dass die Eisenanker erst später eingebaut worden sind, auch weil man gar nicht in der Lage war, die Eisenstangen in dieser Länge zur Karolingerzeit herzustellen. Das ist hiermit widerlegt“ [Maintz 2005, 31].

Obwohl Maintz das Aufmauern gar nicht direkt datieren kann, unterstellt er karolingisches Mauerwerk und schließt deshalb auf karolingische Eisenanker. Nur der Umkehrschluss ist richtig: Weil diese Anker erst im 12. Jh. geschmiedet werden konnten, stammt auch das Mauerwerk aus dem 12. Jh. Daran können auch nachgereichte dendrochronologische Datierungen nichts ändern.

Wenn Notre-Dame de Paris ab ca. 1160 mit Strebewerk aufgeführt worden ist, Noyon kurz davor noch nicht, dann dürfte auch der Aachener Dom (damals Pfalzkirche) kaum nach 1160 begonnen worden sein. Da Paul Benoît [3] im Kloster Clairvaux Hinweise auf Hammerwerke bereits um 1135 gefunden hat, lässt sich Aachens Oktogon zwischen 1130 und 1160 ansetzen.

Die Kathedrale Notre-Dame liegt teilweise in Schutt und Asche, wird aber – wie alle hoffen – bald wieder aufgebaut werden. Doch Karls Aachener Pfalzkirche ist für immer pulverisiert und nicht mehr zu retten!

Literatur

Benoît, Paul (vor 2009): Les savoirs du fer; http://www.cnrs.fr/prg/PIR/programmes-termines/histsavoirs/A6-Benoit.pdf

Illig, Heribert (42014): Aachen ohne Karl den Großen. Technik stürzt sein Reich ins Nichts; Mantis, Gräfelfing

Le Goff, Christine / Glassman, Gary (2010): Kathedralen – Wunderwerke der Gotik. Gesendet auf TV-Kanal Arte am 23.04. 2011 um 20:15, erneut gesendet am 16. 04. 2019 um 22:05

Maintz, Helmut (2008): Die Grund- und Außensanierung 1986 bis 2006 (Schriftenreihe Karlsverein-Dombauverein, Band 10); Thouet, Aachen

– (2005): Sanierung karolingisches Mauerwerk. Sanierung Turmkreuz und Neuverschieferung Turmhelm (Schriftenreihe Karlsverein-Dombauverein, Band 7); Thouet, Aachen [divergierende Druckjahre, auf Titelblatt: 2005, in der Titelei: 2004]

 

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